Noch ehe das Beben die Mauern erschütterte, noch ehe das Blut wie Regen durch die Straßen floß, kauerte Lyr’sa tief unter der Erde, dort, wo kein Licht sie fand.
Der Tunnel roch nach Schweiß, Schlamm und Angst. Die Stützbalken, aus altem, halb verfaultem Holz, knackten bei jedem Schritt. Tropfen sickerten von der Decke, liefen über ihre Stirn, sammelten sich kalt an ihrem Hals. Sie hielt die Fackel dicht, das Öl darauf knisterte leise, doch es war das einzige Licht, das die Finsternis zurückdrängte.
„Oh nau …“, murmelte sie, fast tonlos. Ihre Stimme wurde von den feuchten Wänden geschluckt, als hätten sie schon genug von ihren Zweifeln gehört.
Sie ließ sich gegen eine der Balkenlehnen sinken, das Eisen ihres Werkzeugs schwer in der Hand. Ein Stück Stützwerk musste noch gelöst werden, nur noch eins, und dann würde die ganze Konstruktion kollabieren. Sie wußte es – und doch nagte der Zweifel.
Was, wenn die Mauer nicht stürzte?
Was, wenn alles, was folgte, nur Staub und ein paar Risse wären?
Was, wenn Jhea’kryna Ky’Alur, die Ilharess, die ihr diese letzte Chance gegeben hatte, dann nur Spott für sie übrig hätte?
Der Gedanke schnitt tiefer als jeder Dolch.
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Ein paar Tage zuvor.
Sie kniete im großen Saal des Qu’ellar Ky’Alur, den Kopf gesenkt, die Lippen trocken. Jhea’kryna saß hoch oben, der Blick wie geschliffener Obsidian. Lyr’sas Stimme war gebrochen, als sie sprach:
„Malla Ilharess … ich habe versagt. Die Melee Magthere wollte mich nicht. Ich habe mein Haus beschämt. Ich …“
Ein Zischen durchfuhr die Halle – Kyrii’linths Spott, das Kichern einer Yathrin, das Schweigen der Wachen, die nicht einmal den Kopf hoben.
Doch Jhea’kryna sprach, und ihre Stimme schnitt alles andere hinweg.
„Du hast versagt, ja. Doch Lloth liebt es, aus den Schwachen Waffen zu machen, die keiner erwartet. Bring mir einen Sieg, Lyr’sa. Einen Sieg, den Zauviir nicht kommen sieht. Und dann will ich sehen, ob du mehr bist als Schrott im Feuer.“
Lyr’sa hatte den Kopf so tief geneigt, daß ihre Stirn fast den Boden berührte. „Ja … malla Ilharess. Ich werde euch nicht enttäuschen.“
Doch in ihrem Inneren, damals wie heute, gähnte das Loch der Furcht.
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Nun, hier, im Tunnel, schüttelte sie den Kopf, als könne sie diese Erinnerung abstreifen. Sie hob das Werkzeug – eine Eisenstange, verbeult, aber stark – und stieß es zwischen Balken und Fels. Holz splitterte, Staub rieselte.
„Es muss reichen,“ murmelte sie. „Es muss einfach … reichen.“
Sie hörte Schritte hinter sich, ihre kleinen Helfer – Sklaven, armselige Gestalten, deren Namen sie nicht mehr wußte. Sie hatten die Ölfässer getragen, die Brandranken gespannt, alles so vorbereitet, wie sie es befohlen hatte. Ihre Gesichter waren grau vor Angst. Einer fragte mit brüchiger Stimme: „Wird … wird das wirklich halten?“
Lyr’sa fuhr ihn an, schärfer, als sie eigentlich wollte. „Es wird halten. Halt den Mund!“
Doch in Wahrheit fragte sie sich dasselbe.
Sie griff nach dem Fackelstock, zündete mit zitternder Hand den ersten Docht der vorbereiteten Seile. Es fraß sich langsam, knisternd, durch die Schwärze, ein roter Faden im endlosen Dunkel.
Sie lehnte die Stirn an den Balken, der nun nur noch von wenigen Splittern gehalten wurde. Ihre Lippen formten stumme Worte: ein Fluch, ein Gebet, vielleicht beides.
„Wenn dies nicht reicht, dann … Qu’ar Valsharess … mögest du mich holen, bevor die Ilharess es tut.“
Ein Rumpeln. Erst weit weg, dann immer näher. Der Boden bebte, als die Flammen die Fässer erreichten. Ein grollendes Fauchen, dann der Knall. Hitze raste durch den Tunnel, Wände erzitterten, Gestein löste sich. Lyr’sa stolperte rückwärts, das Gesicht in den Arm gedrückt, als eine Druckwelle sie fast von den Beinen riß. Schreie gellten – einer der Sklaven wurde von einem einstürzenden Balken zerquetscht, ein anderer stolperte in die Glut und war sofort nur noch Rauch.
Doch Lyr’sa blickte nach oben, durch eine Ritze im Fels, und sah den ersten Riß im Mauerwerk. Staub fiel wie Regen, dann splitterten Steine, und schließlich brach die Wand. Ein Turm neigte sich, erst langsam, dann immer schneller, bis er mit einem Krachen in sich zusammenstürzte.
Sie atmete keuchend, hustete Staub, Blut schmeckte metallisch auf ihrer Zunge. Doch ein Lächeln, klein und unsicher, schlich sich in ihre Züge.
„Es … es hat funktioniert.“
Dann, leise, fast nur für sich:
„Malla Ilharess … ich habe es getan.“
Über ihr, an der Oberfläche, bebte die Erde. Türme fielen, Mauern barsten. Und im gleichen Moment, in der Ferne, erhob sich der Ruf der Ky’Alur-Krieger: „Vorwärts! Für Ky’Alur!“
Lyr’sa blieb noch einen Augenblick in der Dunkelheit stehen. Ihre Hände zitterten, ihre Knie wollten sie nicht mehr tragen. Doch sie wußte: die Schlacht hatte sich in diesem Moment gewendet. Sie hatte Lloths Prüfung bestanden – oder wenigstens einen Schritt darin getan. Sie wischte sich den Staub aus dem Gesicht, richtete sich auf, und ging zurück in Richtung der Stadt – dorthin, wo Jhea’kryna Ky’Alur nun die Bresche nutzen würde, um das Schicksal der Zauviir zu besiegeln.
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