Der Wald atmete. Es war dieser stille, fast unhürbare Atem, den nur jemand wahrnehmen konnte, der lange genug zwischen diesen uralten Bäumen gelebt hatte. Rianon ging langsam, bedacht, mit einem gleichmäßigen Schritt, der kaum Laub aufwirbelte. Die Sonne warf goldene Scherben durch das dichte Blätterdach des Yew-Waldes, und irgendwo fern zwitscherte ein einzelner Vogel; ein Klang wie eine Erinnerung. Der Tag war ruhig. Zu ruhig. Und das nagte an ihm.Diese Geschichte ist ein Ergebnis/die Fortsetzung von Im Netz der Göttin auch als CSI: Yew bekannt. Hier der entsprechende Forenbeitrag: viewtopic.php?t=340
Seit sie, Lirael, Yaranel und er, die entführten Bauern aus den Klauen der Drow befreit hatten, lastete etwas auf seiner Brust. Es war kein Schmerz. Es war Verantwortung. Die Drow waren fort, ja. Doch ihr Erscheinen war kein Zufall, kein verirrter Ausbruch der Dunkelheit. Es war ein Zeichen. Ein Riss im Schutz des Waldes. Und das ließ ihn nicht los. "Der Yew-Wald ist nicht mehr unantastbar," murmelte er vor sich hin, während seine Finger sanft über die Rinde eines Baumes glitten, so als wolle er Trost spenden oder suchen.
Er blieb stehen. Blickte hinauf. Die Äste tanzten im Wind, flüsterten Geschichten, und eine davon erinnerte ihn an eine längst vergessene Erzählung. Eine alte Stimme, in einem der Lichtkreise der Sala, hatte einst vom Orden der *Klingentänzer* gesprochen - Elfenkrieger, die mit Licht und Stahl kämpften, nicht nur mit dem Schwert, sondern mit Ehre, Magie und uraltem Wissen. Wächter der Grenzen. Verteidiger von Leben, nicht Eroberer. Rianon hatte nie einen solchen Krieger gesehen. Vielleicht gab es sie wirklich nur in Legenden. Vielleicht waren sie nie mehr als ein idealisiertes Abbild dessen, was Elfen sein wollten. Und doch - in diesem Moment, allein zwischen Wurzeln und Schatten - erschien es ihm möglich. Nicht nur möglich, sondern notwendig.
Warum sollte es keinen neuen Klingentänzer geben?
Er legte eine Hand auf die Brust, spürte den leisen Schlag seines Herzens. Nein, es war nicht Ruhm, was ihn rief. Es war eine Sehnsucht. Der Wunsch, den Wald nicht nur zu lieben, sondern zu beschützen. Nicht als Rächer. Nicht als Mörder. Sondern als Hüter. "Ein Klingentänzer...?," flüsterte er, fast schamhaft. Es klang zu groß für seine Lippen. Doch in seinem Inneren keimte der Gedanke wie eine junge Eiche. Und dann dachte er an Lirael. Wie sie durch das Unterholz geschritten war - sicher, aufmerksam, verwurzelt. Wie ihre Augen gefunkelt hatten, wenn sie sprach - nicht über Kriege, sondern über Federn, Bögen, Pflanzen. Es war die gleiche Liebe, die ihn bewegte. Nur dass sie einen anderen Klang hatte. Vielleicht ... vielleicht würde sie es verstehen. Er musste sie suchen und sie nach ihrer Meinung fragen.
Ein leiser Windzug strich durch die Äste. Rianon sah ihm nach, als würde er ihm ein Zeichen bringen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung - leise, fast lautlos. Nur der eine Vogel zwitscherte. Diesmal war jeder Schritt mehr als bloß eine Bewegung. Ein stiller Beginn.
