Nachdem Sziedeyna nach ihrer schrecklichen Tat das elterliche Haus für immer hinter sich gelassen hatte, lief sie einfach los. Sie wusste nicht, wohin. Sie kannte die Welt außerhalb ihres kleinen Dorfes gar nicht, obwohl sie so viel darüber nachgedacht und fantasiert hatte. Sie hatte von großen Städten gehört. Britain war ihr ein Begriff. So entschloss sie sich, im Wald zu übernachten und dann am nächsten Tag einen Reisenden zu fragen, ob er ihr den Weg erklären könnte.
Und so geschah es. Sziedeyna wartete auf einer Weggabelung eines moderat befahrenen Weges auf die passende Gelegenheit. Irgendwann zeichnete sich am Horizont ein Pferdekarren ab, der an ihr vorbeikommen musste. Als der Karren kurz davor war, Sziedeyna zu passieren, rief sie dem Fahrer zu:
„He! Könnt ihr für einen Augenblick verweilen? Ich suche den Weg nach … Britain.“
Der Fahrer war ein jüngerer Mann, so in seinen Dreißigern, und hielt den Karren prompt an, indem er seinen Pferden das Signal gab. Er sagte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen:
„Mädchen, das ist aber ein weiter Weg, den du da vorhast.“
Sziedeyna schaute ihn etwas länger als normalerweise üblich an, da es in ihr ratterte.
„Ähm ...“, sagte sie, „wie weit denn?“, fragte sie dann zögerlich.
„Sicher eine Woche mit der Kutsche … zu Fuß entsprechend länger.“
Er musterte sie demonstrativ und fuhr dann fort:
„Und besonders reisetauglich siehst du mir auch nicht aus.“
Sziedeynas Mimik und Gestik verrieten Ratlosigkeit. Sie kratzte sich am Hinterkopf und schaute ihn fragend an.
„Aber ich kann dich ein Stück mitnehmen“, sagte der Fahrer dann und behielt sein freundliches Lächeln.
Sziedeyna presste die Lippen zusammen, während sie über das Angebot nachdachte. Daraufhin nickte sie, die Augen abgewendet, ehe sie ihn wieder anschaute.
„Gut“, sagte sie knapp und näherte sich dem Karren. Den Augenkontakt haltend, kletterte sie langsam hinauf und setzte sich neben den Fahrer, mit einem vorsichtigen Abstand. Der nickte ihr freundlich zu und gab seinen Pferden wieder das Kommando, dass es weitergehen sollte. Der Karren setzte sich langsam in Bewegung.
Sziedeyna war nicht nach Gesprächen. Sie war generell keine gesprächige Person, auch vor den Ereignissen der letzten Nacht schon nie. Dafür hatte es ihr schon immer an Verbindung gemangelt zu ihren Mitmenschen. So blieb sie stumm neben dem Fahrer sitzen und betrachtete scheinbar zufällig die Szenerie, was jedoch nur darüber hinwegtäuschen sollte, was innerlich in ihr vorging. Da durchbrach die Frage des Fahrers die scheinbare Ruhe:
„Was bringt so ein junges Ding wie dich denn dazu, die große Stadt so mutterseelenallein besuchen zu wollen?“
Sziedeyna zuckte leicht zusammen. Sie schaute ihn an, nach einer geeigneten Antwort suchend.
„Ich besuche meine Tante. Meine Eltern sind krank.“ Sie suchte etwas in seinem Blick, das ihr versicherte, dass er ihre improvisierte Antwort schluckte.
„Ah!“, entfuhr es dem Mann, „das erklärt, warum sie dich nicht begleiten.“
Sziedeyna nickte ihm zu, innerlich Erleichterung spürend.
„Ja... leider“, setzte sie noch nach. Danach verfielen sie wieder ins Schweigen.
Nach einigen Meilen kamen sie in einen kleinen Ort.
„So, Endstation, jedenfalls für mich“, sagte der Fahrer, als er den Karren zum Stehen brachte. „Wir sind angekommen. Leider nicht Britain, aber weiter fahre ich nicht.“
Sziedeyna schaute ihn an und konnte die Enttäuschung nicht ganz verbergen. Der Mann zeigte ein mitleidiges Lächeln.
„Tut mir leid.“
Sziedeyna entgegnete mit einem knappen „Macht nichts, trotzdem danke“, und stieg vom Karren.
Der Mann lächelte ihr zu, während sie ihm langsam den Rücken zudrehte und sich umschaute. Dann drehte sie sich plötzlich wieder zu ihm um und fragte:
„Ähm ... und wo geht es jetzt von hier nach Britain?“
Der Mann überlegte kurz und beschrieb ihr dann den Weg:
„Wir sind hier auf der Hauptstraße. Der folgst du einfach in die Richtung weiter“, er deutete mit dem Arm die Straße hinab, „da kommt irgendwann eine Kreuzung. Da musst du links abbiegen, Richtung Norden. Die Straße führt dann direkt nach Britain. Das ist dann auch irgendwann ausgeschildert.“
Sziedeyna folgte seinen Anweisungen in Gedanken, während sich ihre Augen in verschiedene Richtungen bewegten und sie leicht nickte.
„Gut, danke“, sagte Sziedeyna knapp und wendete sich dann wieder von ihm ab. Darauf setzte sie sich in Bewegung und begann der Straße zu folgen.
Aber nur kurz, nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatte, stoppte sie der Mann mit seinem Ruf:
„Hey, Mädchen!“ – Sziedeyna blieb abrupt stehen und drehte sich langsam um.
„In ein paar Tagen wollte ich eh einmal hoch fahren. Wenn du dich solange gedulden kannst, würde ich dich mitnehmen.“ Sziedeyna zögerte. Der Mann fuhr fort:
„Du hast auch gar keinen Proviant. Ich könnte dir etwas aushelfen.“ Sziedeyna stand vor ihm wie bestellt und nicht abgeholt und schaute ihn an. In ihr arbeitete es derweil. Sie wusste nicht ganz, was sie tun sollte. Sie wollte eigentlich so schnell wie möglich Distanz zu ihrem Zuhause gewinnen. Andererseits hatte der Mann Recht. Ohne Proviant eine so lange Reise anzutreten, wäre unvernünftig gewesen. Ihr bot sich hier insofern auch eine Chance.
Sie fragte ihn dann:
„Aber wo kann ich schlafen? Ich habe kein Geld ...“
Der Mann überlegte kurz und sofort hellte sich sein Gesicht auf:
„Das kriegen wir hin. Du kannst bei uns übernachten und im Gegenzug hilfst du uns bei der Ernte.“
Innerlich zog sich bei diesen Worten etwas in ihr zusammen. Aber sie ließ das nicht nach außen dringen und warf dem Mann nur ein knappes Lächeln zu.
„Vielen Dank“, entgegnete sie ihm dann.
Den Mann schien das alles durchaus zu freuen. Sziedeyna hingegen verstand seine freundliche Zugewandtheit nicht wirklich.
„Peter!“, rief der Mann ihr plötzlich zu, Sziedeyna schreckte aus ihren Gedanken auf.
„Peter ist übrigens mein Name.“
Sziedeyna schaute ihn etwas überrascht an und zögerte einen Moment mit einer Antwort.
„Tina“, entfuhr es ihr dann.
Peter nickte freundlich und deutete ihr an, ihm zu folgen, was Sziedeyna tat.
Die Tage vergingen unspektakulär. Sziedeyna blieb wortkarg und antwortete so, wie sie dachte, dass es erwartet wurde, ohne sich je wirklich den Leuten nah zu fühlen, die ihr hilfsbereit ein Dach über dem Kopf boten.
Sie ging tagsüber mit auf die Felder und half bei der Ernte mit. Sie tat es nicht gerne, aber doch aus Überzeugung, dass sie eben das tun musste, was sie zu tun hatte, um im Leben weiterzukommen.
Die Mahlzeiten waren schlicht, aber sättigend. Sziedeyna hatte sogar ein eigenes Bett in einem kleinen Raum bekommen. Peter hatte ihr beim Bezug des Raumes erzählt, dass das Bett eigentlich seiner vor etwas über einem Jahr verstorbenen Tochter gehört hatte. Mehr als ein knappes „Oh“ hatte Sziedeyna nicht dazu zu sagen gewusst.
„Morgen werde ich nach Britain fahren. Die Ernte ist rechtzeitig fertig geworden“, erzählte Peter nach einigen Tagen.
Und so kam es auch. Nach dem Frühstück saßen Sziedeyna und Peter bald wieder auf dem Karren, der diesmal vollbepackt mit der jüngsten Ernte war.
Die Fahrt gestaltete sich ähnlich wie beim ersten Mal. Sziedeyna schwieg die meiste Zeit. Ab und an konnte Peter die Stille anscheinend nicht mehr ertragen und durchbrach sie mit einer Frage oder einer kleinen Erzählung aus seinem Leben. Sziedeyna bemühte sich, Fragen zu beantworten und ihm ein Minimum an augenscheinlicher Aufmerksamkeit bei seinen Erzählungen zukommen zu lassen. Innerlich aber war sie mit ihren Gedanken ganz woanders.
Sie war froh, endlich den Ort nach Tagen verlassen zu haben. Stets hatte sie sich vor einem plötzlichen Ruf wie „Ergreift die Mörderin!“ gefürchtet.
Aber nichts dergleichen war passiert. Vielleicht hielten sie sie auch gar nicht für die Täterin, dachte Sziedeyna zwischendurch. Ihr würde man das nicht unbedingt zutrauen, ohne eindeutige Hinweise.
Und dabei dachte sie auch immer wieder daran, dass sie ihren Vater ohne Herz vorgefunden haben müssen. Was sie dabei wohl dachten? Sie wusste es nicht, aber sie hatte wahnsinnige Angst, dass sie plötzlich irgendwo verhaftet würde.
All das mag Außenstehenden den Eindruck beschert haben, dass über ihr eine kleine unsichtbare Regenwolke hing.
Da die Reise mehrere Tage dauern würde, mussten sie auf dem Weg Zwischenstopps machen. Peter zahlte bereitwillig für sie, und um Sziedeyna kein schlechtes Gewissen zu bereiten, sagte er ihr, dass es noch immer die Bezahlung für ihre Erntehilfe sei.
Sziedeyna war es am Ende egal. Sie bekam, was sie wollte und in ein paar Tagen würde sie diesen Peter wohl nie wieder sehen.
Die Aufenthalte in den Tavernen waren für Sziedeyna etwas Neues. Hier befand sie sich auf einer größeren Handelsroute und dementsprechend groß kam ihr das alles vor.
Sie sah Zwerge, Elfen und Menschen verschiedensten Standes als Gäste. Sie tranken Bier und Wein, spielten Würfel, hörten Barden beim Musizieren zu und aßen herzhafte Mahlzeiten, die ihnen an den Tisch gebracht wurden.
Es war eine eigene Welt, die Sziedeyna so gar nicht kannte. Es fühlte sich an, als ob alle hier etwas anders waren als zuhause.
Manchmal setzten sich aufreizend gekleidete Damen mit an den Tisch von Männern und verschwanden später mit ihnen ins Obergeschoss.
Peter hielt sich aus dem Treiben eher heraus. Er behandelte das Personal freundlich, fragte Sziedeyna nach ihren Wünschen, und so blieben die Aufenthalte ohne Zwischenfälle.
Er schien ein lieber Kerl zu sein und sah in Sziedeyna wahrscheinlich etwas seine Tochter, auf die er aufpassen wollte.
Auf der letzten Etappe ihrer Reise geschah dann etwas Unvorhergesehenes.
Während Sziedeyna etwas geistig abwesend Peter zuhörte, vernahm sie auf einmal ein kurzes Zischen, auf das Peter plötzlich verstummte. Der Karren verlangsamte sich und kam schließlich zum Stand, da Peter die Zügel scheinbar losgelassen hatte.
Sie begriff erst, was passiert war, als Peter sich ihr körperlich aufzudrängen begann. Aber nicht, weil er sie belästigen wollte, sondern weil er anscheinend tot war – von einem Pfeil in die linke Schläfe.
Sziedeyna reagierte instinktiv und glitt fast wie eine Schlange vom Karren und an seine Unterseite. Dort hing sie sich wie eine Spinne unter den Boden.
So getarnt hoffte sie, dem Angreifer nicht weiter aufgefallen zu sein, der denken sollte, Peter wäre der einzige Insasse gewesen. Von der Pfeilrichtung zu schließen, hatte Sziedeyna blitzschnell ausgemacht, hätte sie dem Schützen wohl verborgen gewesen sein können.
Woher Sziedeyna diesen Überlebensinstinkt hatte, war ihr selbst nicht klar. Manche Menschen werden vielleicht damit geboren.
So verharrte Sziedeyna eine Weile, bis sie etwas hörte. Zwei Männer näherten sich dem Karren. Sie wusste anhand ihrer Stimmen, dass es Männer mittleren Alters gewesen sein mussten. Sie dachte an Banditen.
Die Männer lösten die zwei Pferde vom Karren, stießen Peter hinunter und durchsuchten ihn. Einer schnitt ihm seinen Geldbeutel ab. An der Ernte hatten sie offenbar kein Interesse. Kurz darauf entfernten sie sich wieder.
Sziedeyna wartete noch einige Minuten ab, ehe sie es wagte, sich aus ihrem Versteck zu lösen. Sie sondierte die Lage von unterhalb des Karrens und kam dann unter ihm hervor.
Keine Pferde und kein Geld. Sie seufzte, und ihr blieb nichts anderes übrig, als den Rest des Weges zu Fuß fortzusetzen. Dort bleiben konnte sie jedenfalls nicht, wenn nicht die nächste Kutsche sie für die Mörderin halten sollte.
Also nahm sie die Beine in die Hand, suchte den Waldrand auf und folgte dem Weg in einer parallelen Route.
Da sie nun deutlich langsamer unterwegs war, brach die Nacht herein, ehe sie Britain erreichen konnte.
So bettete sie sich auf etwas Moos und dachte grummelnd daran, dass sie jetzt etwas von dem Heu auf dem Karren gut hätte gebrauchen können, um nicht so zu frieren, da die Nacht echt kalt wurde.
Aber sie ergab sich ihrem Schicksal und trotzte der Kälte trotzdem, indem sie sich möglichst klein zusammenrollte und sich mit etwas Laub umgab.
Dauerhaft wäre das nichts für sie gewesen, so ohne jegliche Ausrüstung, aber diese eine Nacht würde sie überstehen, war sie fest entschlossen.
Am nächsten Morgen war sie durchgefroren, aber gleichzeitig feuerte sie auch die Aussicht an, ihr Ziel heute endlich zu erreichen.
Am späten Nachmittag war es dann tatsächlich so weit. Britains Zinnen schälten sich allmählich aus dem Horizont. Etwas später stand sie dann vor den Toren der majestätischen Stadt. Ehrfurcht durchfuhr sie. So etwas kannte sie bisher gar nicht. Diese Größe. Sie empfand zum ersten Mal wirklich Respekt vor etwas. Hier gab es was zu holen, dachte sie sich. Hier fand das Leben statt. Nicht wie in ihrer Heimat, in der die Menschen in ihren Augen ein Leben in der Bedeutungslosigkeit führten. Wenn es irgendwo Bedeutung gab, dann hier, da war sich Sziedeyna sicher.
Mit neuem Mut betrat sie daraufhin die Stadt. Es fühlte sich magisch an. Ob es jedem Landei so erging, fragte sie sich. Sie kam an einem Anschlagbrett vorbei und las die Anschläge. Viele Aufträge. Manche seltsam kryptisch. Sziedeyna dachte sich: „Wäre doch gelacht, wenn ich hier kein Geld verdienen kann.“
In ihrem Übermut riss sie einen der kryptischen Anschläge vom Brett und nahm ihn mit. Sie suchte umgehend die darauf genannte Adresse, fragte dazu ein paar Mal Passanten und stand schließlich vor einer kleinen schwarzen Tür. Sie war aus schwerem Holz und wirkte hochwertig, ohne gleich aufzufallen. Sie drückte dagegen und dachte erst, sie sei verschlossen, bis sie doch langsam nachgab.
Sie folgte einem Gang im Innenhof und suchte nach jemandem, den sie ansprechen konnte. Da fasste sie plötzlich eine Hand von hinten auf die Schulter. Sie erschrak, weil sie damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Ein alter berobter Mann mit langem Bart stand vor ihr.
„Mädchen, hast du dich verirrt?“, fragte er sie mit sonorer Stimme, sie gleichzeitig freundlich, aber auch etwas lauernd anschauend.
Sziedeyna musste sich erst etwas sammeln, bevor ihr eine Antwort gelang. Schließlich entgegnete sie: „Ähm, ich glaube nicht.“ und dann zeigte sie dem Alten den Anschlag.
Er erkannte sofort, worum es ging, und schaute Sziedeyna sehr zweifelnd an. Sziedeyna verstand die Geste und legte nach:
„Ich möchte arbeiten, nein, ich möchte Geld verdienen“, wurde sie langsam mutiger.
„Ah“, entfuhr es dem Alten, „bei Ersterem hätte ich dich vielleicht fortgeschickt. Wer will schon arbeiten? Aber Geld, ja, das wollen sie alle. Du bist mutig, hier so aufzutauchen. Weißt du überhaupt, wer ich bin?“
Sziedeyna schüttelte den Kopf, hatte aber das Gefühl, hier an der richtigen Adresse zu sein.
Der Alte lachte kurz auf. Sziedeyna fuhr aber sofort fort:
„Das ist mir eigentlich egal, ich will den Auftrag.“
Nun schaute sie der Alte anerkennend nickend an:
„Das ist eine weise Einstellung, Mädchen. Damit wirst du es vielleicht weit bringen.“
Sziedeyna hing an seinen Lippen, während er fortfuhr:
„Aber schau dich an. Wie willst du den Auftrag erfüllen, so wie du aussiehst? Keine Ausrüstung? Was kannst du überhaupt?“
Sziedeyna zögerte kurz und sagte dann entschlossen:
„Ich kann vielleicht nicht viel, aber alles lernen.“
Der Alte schmunzelte.
„Du hast Schneid, kleines Ding, das muss man dir lassen.“ Daraufhin lachte er nochmal. Kurz überlegte er anscheinend, bis er Sziedeyna dann sagte:
„Ich will dir eine Chance geben. Gehe in die Schmiedegasse und frage nach Dorkan. Sage ihm, Thalkor von Schwarzbrunn schickt dich, und er solle dich ausrüsten. Nun geh, Mädchen, und enttäusche mich nicht.“
Sziedeyna nickte ihm bekräftigend zu und machte kehrt, um das Anwesen wieder geschwind durch die schwere schwarze Tür zu verlassen. Wieder draußen wagte sie es zum ersten Mal, ihre Emotionen rauszulassen. Sie sprang in die Luft. Sie hatte es geschafft. Sie hatte den Fuß in der Tür von Britain und jemand war bereit, ihr zu helfen … wenn sie ihm half. Und das wollte sie.
Ausrüstung wartete auf sie. Sie fragte sich durch zur Schmiedegasse und dem Mann namens Dorkan. Irgendwann stand sie vor einem Haus mit einer Schmiede im Hinterhof. Sie betrat selbigen und schaute sich um, suchte nach dem Mann. Niemand schien da zu sein. Sie näherte sich dem Bereich mit Schmiedeerzeugnissen. Sie sah ein paar Rüstungen und Waffen. Diese übten auf sie fast eine magische Anziehungskraft aus. Sie fuhr mit der Hand über das Leder und den Stahl der Rüstungen, fühlte prüfend die Klingen und wollte gerade nach dem Heft eines Kurzschwertes greifen, da stoppte sie der plötzliche Ruf eines Mannes hinter ihr.
„Halt!“ Sziedeyna wandte sich abrupt um und erblickte überrascht den Mann, von dem der Ruf wohl ausgegangen war. Er fuhr fort:
„Auf frischer Tat ertappt. Mach dich auf Ärger gefasst, freches Gör!“
Sziedeyna schaute ihn mit weiten Augen an und fand dann erst ihre Worte wieder:
„Äh, ich wollte nicht stehlen, äh, Tha... Thalku, Thalkor von Schwarz...“
Der Mann unterbrach sie. „Thalkor hat dich geschickt?“
Sziedeyna fand nun ihre Sicherheit wieder:
„Ja, genau. Ich solle hier ausgerüstet werden.“
Der Mann lachte. „Du? Du willst Aufträge für Thalkor erledigen? Du bist doch noch ein halbes Kind!“
Sziedeyna entschied sich für dieselbe Masche, die schon bei dem Alten funktioniert hatte, und sagte nun selbstsicher:
„Was ich noch nicht kann, kann ich lernen!“
Der Mann lachte wieder.
„Kannst du denn mit einem Schwert umgehen?“
Sziedeyna zögerte. „Nun ... Erfahrung habe ich damit noch keine.“
Der Mann kratzte sich am Kopf und ging zu den Waffen.
„Nun gut, dann komm mal her. Das Schwert hier hattest du eben schon anvisiert, korrekt? Da hast du schon nicht schlecht gewählt. Vielleicht hast du ja so etwas wie eine natürliche Begabung. Ganz ehrlich, ohne die gebe ich dir keine Chance. Aber überrasche mich vom Gegenteil, oder eher, überrasche Thalkor. Falls du das nicht kannst, wirst du es nur einmal merken, weil du dann nämlich tot bist. Ist nicht mein Problem. Kapiert? Also das Schwert hier. Hm, bei deiner Größe passt keine der Rüstungen. Das muss ich anpassen. Ich würde dir zu dieser hier raten. Ist nicht zu schwer, viel Leder, aber an den entscheidenden Stellen auch Stahl. Du musst nicht gegen Menschen kämpfen, sondern dich nur gegen dummes Gesocks verteidigen. Wenn du das nicht kannst, Pech gehabt.“
Sziedeyna wurde der Ernst klar, mit dem sie es hier zu tun hatte. Die beiden Männer waren bereit, ihr Arbeit zu geben, aber wenn sie dem nicht gewachsen war, dann würden sie ihr keine Träne hinterherweinen. Sie atmete einmal durch und nickte ihm zu.
Er schloss dann das Gespräch ab:
„Geh einmal dort hinein und lass dir von meiner Frau die Maße nehmen. Dann komm in zwei Tagen wieder, dann kannst du alles abholen.“
Sziedeyna folgte dem, ließ die Maße nehmen und verließ daraufhin das Anwesen des Schmieds wieder. Nun musste sie die Zeit irgendwie überbrücken. Geld hatte sie noch keines. Aber die Ausrüstung bekam sie umsonst. Sie entschied sich, die zwei Nächte irgendwo in einer abgelegenen Ecke zu verbringen. Keinen falschen Stolz jetzt, dachte sie. Und so lebte sie für zwei Tage wie eine Obdachlose, aber mit der Hoffnung, bald etwas aus ihrem Leben machen zu können.
Die zwei Tage vergingen wie im Flug. Sie nutzte die Zeit, die Stadt zu erkunden und die Stimmung der Stadt einzufangen. Wieder in der Schmiedegasse betrat sie den Innenhof und fand den Schmied diesmal in seiner Schmiede vor. Laut erklang der Hammer auf dem Amboss. Sziedeyna nutzte eine Klangpause und räusperte sich. Der Schmied wandte sich um zu ihr.
„Ah. Du bist zurück. Ich habe mit Thalkor gesprochen und er hat bestätigt, dass er dich geschickt hat. Rüstung und Schwert sind fertig.“ Er deutete zu einer Puppe, die die Rüstung trug. Sie gefiel Sziedeyna. Sie war an ihre Größe angepasst und wirkte unscheinbar im Farbton, wie ein mattes Bronze mit dunklen Lederverbindungen. Dann holte er das Schwert und reichte es ihr, indem er ihr das Heft hinhielt. Sziedeyna ergriff das Schwert und hielt es vor sich. Sie versuchte dabei möglichst so zu wirken, als ob sie wusste, wie man ein Schwert führte.
Der Schmied schmunzelte leicht und fragte:
„Bist du sicher, dass du damit umgehen kannst?“
Sziedeyna schaute ihn an und konnte ihre Unsicherheit nicht ganz verbergen.
„Komm mal her, ich zeige dir, wie du es halten musst. Siehst du da die Übungspuppe?“ Er deutete auf eine zerschlissene Puppe, die wohl schon so manches abbekommen hat. Er führte sie an die Puppe heran und hielt ihre Hand mit dem Schwert darin mit seinen Händen umschlossen. „Kampfhaltung ...“
Es verging der ganze Nachmittag, den der Schmied mit Sziedeyna verbrachte, ihr das Wesentliche beizubringen. Ganz so egal war sie ihm vielleicht doch nicht. Vielleicht regte sich auch in ihm ein väterlicher Instinkt.
„Gut so, du machst das schon ganz gut. Jedenfalls nicht so, als sei es dir völlig fremd. Vielleicht hast du ja wirklich Talent. Deine größte Stärke ist deine Intuition. Anderen muss man das erst mühsam beibringen. Aber merk dir: Talent allein macht noch keine gute Kriegerin. Wenn du dein erstes Geld verdient hast, solltest du es für weitere Übung nutzen. Vor dir liegt ein langer Weg, sofern er nicht abrupt zu einem Halt kommt. Nun geh und stell dich Thalkor mit der Ausrüstung vor.“
Sziedeyna hatte in der Zwischenzeit auch die Rüstung angezogen und machte sich nun auf den Weg zur schwarzen Tür.
Dort angekommen, betrat sie das Anwesen wie bereits vor zwei Tagen geschehen. Wieder fand sie niemanden vor und wieder stand der Alte plötzlich hinter ihr, als hätte er sich aus dem Nichts manifestiert. Das war ihr unheimlich, aber sie versuchte es abzuschütteln.
„Gut, hat Dorkan dir was Schönes gemacht“, sprach er mit gewohnt sonorer Stimme. „Dann kannst du ja nun deinen ersten Auftrag erledigen.“
Sziedeyna versuchte möglichst selbstsicher zu wirken und nickte ihm nur zu. Nach einer kurzen Pause fragte sie aber:
„Und was wäre das genau?“
Der Alte schmunzelte leicht und fuhr dann fort:
„Du sollst den alten Friedhof außerhalb von Britain besuchen und dort etwas für mich finden.“
Sziedeyna schaute ihn fragend an:
„Und was genau?“
Der Alte reagierte prompt:
„Knochen, alte Knochen.“
Sziedeyna warf ihm einen skeptischen Blick zu:
„Dafür habe ich nun diese Ausrüstung bekommen, um lediglich ein paar alte Knochen auszubuddeln?“
Der Alte betrachtete sie amüsiert und entgegnete:
„Nun, nicht alle Knochen lassen sich freiwillig aufsammeln. Manche wollen sich wehren.“
Sziedeyna dachte nach und kurz darauf verstand sie.
„Ah.“
Weitere Worte brachte sie nicht raus.
„Kannst du das tun, Mädchen?“
Sziedeyna fasste sich ein Herz:
„Ja, ich werde euch nicht enttäuschen.“
Sziedeyna war bereits dabei, sich umzudrehen in Richtung Ausgang, da fragte der Alte sie noch:
„Wie ist eigentlich dein Name?“
Sziedeyna zögerte. Sollte sie ihm auch sagen, sie hieße Tina? Oder ihm reinen Wein einschenken? Hier war sie einerseits weit von der Heimat entfernt, und so wie ihr dieser Mann vorkam, hatte er sicherlich selbst etwas auf dem Kerbholz. Wer benötigt schon alte Knochen? Sie fühlte sich insofern sicher und entgegnete knapp:
„Sziedeyna.“
Dann wandte sie sich um und ging.
Sie fragte wieder ein paar Passanten, wo es denn zu jenem Friedhof ginge, und war nach einer knappen Stunde dort.
Verfallen und sich selbst überlassen lag er dort, die eine Hälfte des Eingangstores fehlte. Sie betrat den Totenacker mit vorsichtigen Schritten und schaute sich um. Das Schwert steckte noch in der Scheide. Sie ging weiter. Die Gräber wirkten uralt. Moos bedeckte die Grabsteine, deren Inschriften sich kaum noch entziffern ließen.
Sie visierte ein Grab an, das ihr intuitiv „gefiel“, und begann zu graben. Dazu hatte sie eine kleine Schaufel dabei. Tief genug stieß sie endlich auf Skelett-Überreste im Boden. Sie packte in einen Sack, was sie bergen konnte, und wollte sich gerade an das nächste Grab machen, da erhob sich der Boden plötzlich neben ihr.
Zuerst erblickte sie eine knöcherne Hand, dann einen Arm und schließlich erhob sich ein ganzes Skelett aus dem Boden. Sziedeyna erschrak. Das war es also, warum sie Rüstung und Schwert bekommen hatte. Aber wie „tötete“ man so ein Skelett? Es war doch schon tot. Das hätte man ihr vielleicht früher sagen sollen.
Instinktiv zog sie ihr Schwert und nahm eine Kampfhaltung ein. Das Skelett bewegte sich behäbig und langsam auf sie zu. Sie versuchte, das Skelett zu treffen, striff aber nur eine Hand, die aus vielen kleinen Knochen bestand, die sich wie eine Einheit leicht bewegten.
Dann versuchte das Skelett, sie zu schlagen. Sie wich zurück und schlug mit dem Schwert zu. Sie traf den Brustkorb, dem dies aber kaum etwas ausmachte. Sie überlegte angestrengt, während sie immer wieder zurückwich, was sie tun konnte. Das Skelett war nicht so schnell wie sie.
Nachdem das Skelett wieder versucht hatte, sie zu treffen, schlug sie gezielt mit dem Schwert durch den Hals des Skeletts und trennte dadurch den Schädel vom Rest. Sie wunderte sich, dass das klappte, da ja vorher eigentlich nichts wirklich die einzelnen Knochen zusammenzuhalten schien.
Als der Kopf zu Boden plumpste, wollte das Skelett nach ihm greifen, aber Sziedeyna war schneller und schnappte ihn sich. Sie rannte einige Schritte zum Tor zurück und sah, wie der Körper des Skeletts in sich zusammenklappte. Nach lautem Klappern kehrte wieder Ruhe ein.
Der Schädel jedoch wollte nach ihr schnappen. Sie erschrak und warf ihn auf den Boden. Dieser Aufprall schien das letzte verbliebene „Leben“ aus ihm herausgeprügelt zu haben, denn er blieb regungslos liegen. Sie hob den Schädel wieder auf und steckte ihn in den Sack mit den anderen Knochen.
Nun näherte sie sich wieder dem Knochenhaufen, der sie zuvor noch angegriffen hatte. Nichts mehr. Es war nur noch ein Haufen Knochen. Sziedeyna packte diese Knochen auch noch in den Sack, der ihr schon fast zu schwer geworden war. Sie achtete vorsichtig darauf, ob sich in dem Sack wieder etwas regte, aber er blieb ruhig. Die Kraft, die die Knochen einst beseelte, musste durch die Schläge vertrieben worden sein.
So machte sich Sziedeyna voll bepackt auf den Rückweg. Stolz kam in ihr auf. Sie hatte es geschafft und sogar einen Kampf erfolgreich gemeistert.
Zurück beim Alten lieferte sie den Sack ab. Dieser schmunzelte und nickte ihr anerkennend zu.
„Habe ich dich richtig eingeschätzt. Aus dir könnte was werden.“
Daraufhin übergab er ihr einen kleinen Beutel mit Goldmünzen. Als Sziedeyna das Gewicht in ihrer Hand spürte, konnte sie es kaum glauben. So viel Gold und so schnell verdient. Das sollte von nun an ihre Einkommensquelle werden.
Sziedeyna bezahlte anfangs eine Herberge und steckte das meiste von ihrem Einkommen in ihre Kriegerausbildung. Einige Jahre später konnte sie ein kleines Haus beziehen und lebte dank der unorthodoxen Tätigkeiten in relativ stabilen finanziellen Verhältnissen.
Sie hatte es geschafft und war in Britain sesshaft geworden.
