Der Turm

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gelöschter Charakter_580
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Der Turm

Beitrag von gelöschter Charakter_580 »

Sziedeyna war wieder unterwegs. Sie hatte jüngst einen ihrer Aufträge erledigt und war auf dem Rückweg von Minoc. Sie wählte diesmal ihre Route nördlich des Schwarzsteingebirges. Die Rückwege nutzte sie immer zur Erkundung von ihr bisher unbekannten Gebieten. Es war wichtig, dass sie stets neue Quellen erschloss für die Art Materialien, die sie für ihre Auftraggeber besorgte. Insofern war Sziedeyna nicht bloß Auftragnehmerin, ihre Arbeit machte sie auch zu einer Abenteurerin. Sie hatte vor einer Weile mal gehört, dass es irgendwo nordwestlich des Gebirges Ruinen geben solle. Die örtliche Nähe wollte sie nutzen.

Es wurde langsam dunkel. Ihr bescheidenes kleines Lager schlug sie am Fuß des Gebirges auf. Zum Glück hatte es eine Weile nicht mehr geregnet und die Nächte waren verhältnismäßig warm. Ein Feuer benötigte sie dennoch, wenn sie am nächsten Morgen nicht durchgefroren sein wollte. Sie ging etwas trockenes Feuerholz sammeln und schaute sich aufmerksam um. Zunächst war nichts Auffälliges zu beobachten. Ein offener Wald befand sich um sie herum. Die Bäume standen in kleinen Gruppen und ließen immer wieder Freiräume. Für einen Vogel mag es von oben wie eine von Geröll durchzogene Fläche mit vielen gelbgrünen Tupfen gewirkt haben.

Als Sziedeyna schon etwas geeignetes Holz gefunden hatte, fiel ihr etwas auf, das sie zuvor nicht bemerkt hatte. In einiger Entfernung schien etwas hinter einer jener Baumgruppen hervorzuragen, das größer war, aber sich gleichzeitig leicht dem Blick verweigerte, da es mit dem grauen Hintergrund des Gebirges optisch gut verschmolz. "Ein... Turm", dachte Sziedeyna. Das weckte ihr Interesse, aber da es immer dunkler wurde und sie noch etwas Holz sammeln musste, beschloss sie, dem Turm erst am Morgen einen Besuch abzustatten.

Nachdem sie genug Holz gefunden hatte, kehrte sie zu ihrem Lager zurück, stapelte einen Teil des Holzes über einer kleinen ausgehobenen Mulde pyramidenförmig auf und erweckte erste Flammen mit Hilfe eines Zunderschwamms und Zündhölzern. Sie holte sich etwas Proviant aus ihrer Tasche und genoss den Moment der Ruhe, während ihre Gedanken sich um den Turm drehten, den sie morgen näher erkunden würde.

Inzwischen war es schon komplett dunkel geworden und die Sterne standen am Himmel. Der Mond versteckte sich jedoch zu dieser Zeit des Monats. Sie legte letztes Holz auf und bereitete sich für die Nacht vor. Sie breitete die Schlafrolle aus und entfaltete ihre Decke, da meinte sie plötzlich etwas im Augenwinkel bemerkt zu haben. Sie wendete den Kopf ruckartig zur Seite, zu dem Ort, wo sie glaubte, dass dort etwas gewesen sein musste. Aber nichts. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. War es Einbildung? Für gewöhnlich war sie nicht schreckhaft, wenn sie allein irgendwo in der Wildnis übernachtete. Sie neigte nicht zu Einbildungen. Aber vielleicht war es diesmal eine, fragte sie sich.

Das Feuer war inzwischen nur noch eine schwache Glut, die Nacht im vollen Gang. Da wachte Sziedeyna plötzlich auf. Ihr Schlaf war diese Nacht ohnehin leicht gewesen, auch weil sie die "Einbildung" nicht ganz losgelassen hatte. Sie hatte ein seltsames Gefühl... als ob sie nicht allein wäre. Sie lauschte, nichts. Es war still. Da fiel es ihr auf: Vielleicht zu still. Keine Nachttiere waren zu hören. Sie erwartete sicher kein Vogelgezwitscher um diese Zeit, aber sie hörte keine Eulen, kein leises Rascheln im Gehölz, absolut nichts. Selbst der Wind schien stillzustehen. Vorsichtig, fast unmerklich änderte sie ihre Position, um ihre Umgebung zu sondieren. Die Sterne gaben ihr immerhin etwas Hilfe und ließen die Umgebung nicht in völliger Dunkelheit verschwinden.

Die glimmenden Reste des Feuers zogen automatisch Sziedeynas Blick auf sich, als es sie wie ein Ruck durchzog. Auf der anderen Seite, hinter der Glut, meinte sie plötzlich eine dunkle Gestalt ausfinding zu machen. Sie schreckte hoch und griff suchend hinter sich schauend nach ihrem Schwert. Als sie es innerhalb weniger Sekunden in der Hand hatte und in Kampfhaltung auf den Beinen war, das Herz pochend und den Körper von Adrenalin geflutet, fand sie jedoch niemanden mehr vor. Ihr Blick wanderte suchend umher, sie lauschte immer wieder. Aber es schien, als wäre da nie etwas gewesen.

Eine Sache hatte ihr jedoch gezeigt, dass es keine Einbildung gewesen sein konnte. Nachdem sie das Schwert langsam wieder gesenkt und es zögernd in die Scheide zurückgeschoben hatte, fiel ihr auf, dass diese Totenstille verschwunden war. Der Wald, der sich im blassen Sternenlicht um sie herum wie übergroße Wattebäusche manifestierte, war in einen Zustand zurückgekehrt, der ihr wieder vertrauter vorkam. Ab und an ein Rascheln am Boden, das wohl nur von einem sehr kleinen Tier stammen konnte, oder der Ruf eines Nachtvogels. Diese Nacht konnte sie nicht mehr richtig schlafen, sondern versuchte, in einem Dämmerzustand eine Grundwachsamkeit zu bewahren, während sie sich dennoch bestmöglich ausruhte.

Die Nacht verlief ohne weitere Zwischenfälle und wich allmählich dem Morgengrauen. Sziedeyna stand auf, aß noch etwas und packte ihre Ausrüstung zusammen. Sie schaute sich um und machte den Turm in der Ferne aus, der ihr in diesen Sichtverhältnissen wohl niemals aufgefallen wäre, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er da war. So machte sie sich auf den Weg...

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Zuletzt geändert von gelöschter Charakter_580 am 13 Jul 2025, 00:40, insgesamt 1-mal geändert.
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gelöschter Charakter_580
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Einschub – Die Nacht der Spaltung

Beitrag von gelöschter Charakter_580 »

Es heißt, manche Ereignisse bringen eine Seele dazu, zu zerspringen. Sie fragmentiert – in zwei oder gleich mehrere Stücke. Meist resultiert dies darin, dass sich in einem Wesen mehrere Persönlichkeiten bilden, die sich den Platz teilen. Die Ursache besteht oft darin, dass das Ereignis zu viel für eine Persönlichkeit war, um verkraftet zu werden. Und so bildet sich eine Persönlichkeit, die den vollen Schmerz in sich trägt, sich aber gleichzeitig in die hinterste Ecke eines dunklen Zimmers zurückzieht und von nun an anderen Persönlichkeiten den Vortritt lässt, mit der Welt in Kontakt zu treten.

Bei Sziedeyna schien jedoch etwas anderes passiert zu sein. Vielleicht war es eine kosmische Intervention, vielleicht aber auch ein perfides Experiment einer höheren Macht. Nachdem Sziedeyna in ihrer Jugend ihre Eltern im Affekt ermordet hatte, war das für sie eigentlich zu viel, um damit leben zu können. So entstand irgendwo in einer anderen Welt ein Abbild von ihr, das diese Last an sich nahm. So gab es fortan zwei Sziedeynas, die nichts voneinander wussten.

Die Sziedeyna, die wir kennen, wurde damals von ihrer Last befreit. Sie empfand Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Tat und lernte, damit zu leben. Die andere Sziedeyna, die ihre volle Last trug, war jedoch von einer Dunkelheit beherrscht, die sie nur zu gut verbergen konnte. Äußerlich glichen sich beide Sziedeynas bis aufs Haar. Sogar ihr Lebenswandel unterschied sich nicht. Beide bestritten ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsaufträgen, die meist die Besorgung von Zaubermaterialien für zwielichtige Auftraggeber beinhalteten. Aber tief in ihrem Inneren unterschieden sie sich. In der einen loderte Selbsthass, in der anderen herrschte eine innere Leere vor – so, als wäre ihr einst etwas genommen worden, das ihr seitdem fehlte.

Die Sziedeyna mit dem Selbsthass trug auch jenen Hass in sich, der sie damals zu der grauenvollen Tat angestiftet hatte: die Verachtung für die profane Welt ihrer Eltern, in der sie aufgewachsen war. Sie hatte keinen Sinn in ihr finden und es nicht ertragen können, wie sich alle in dem kleinen Dorf nur um Dinge wie die nächste Ernte gekümmert hatten. Die Menschen dort waren ihr wie eine Herde Schafe vorgekommen, deren einziger Sinn eigentlich darin bestanden hatte, irgendwann zur Schlachtbank geführt zu werden. Sie hatte stattdessen von Unsterblichkeit geträumt – vom ewigen Leben. Sie hatte sich vorgestellt, wie alle, die sie gekannt hatte, irgendwann ihr sinnloses Leben ausgehaucht hätten, während sie geblieben wäre. Sie hatte dazu recherchiert und sich u. a. mit dunklen Ritualen beschäftigt. Ein Verfahren, Unsterblichkeit zu erlangen, war bei ihr allerdings nachhaltig hängen geblieben: Vampirismus.

In jener Nacht eskalierte die Situation. Sie hatte zuvor schon oft gegen die Vorgaben ihrer Eltern verstoßen und war trotz Hausarrests nachts heimlich davongeschlichen. Doch nun erwarteten ihre Eltern sie, als sie von ihrer nächtlichen Eskapade zurückkehrte. Sziedeyna war fuchsteufelswild, als ihre Eltern ihr erneut damit drohten, sie ins Kloster zu schicken. Voller angestauter Wut und Verachtung griff sie im Affekt zu einem großen Küchenmesser und erstach diejenigen, die in dem Moment für sie nichts anderes gewesen waren als die Ursache all ihrer Unzufriedenheit. Vielleicht war sie in dem Moment nicht sie selbst, sondern ein dunkler Engel in sie gefahren, der sie im entscheidenden Moment befähigte, diese schreckliche Tat zu vollüben.

Nur eine Sziedeyna trug das volle Ausmaß ihrer Tat mit sich herum. Sie hielt an ihrem sehnlichen Wunsch nach Unsterblichkeit fest – vielleicht, weil nur das ihrer Schuld einen Sinn geben konnte. Und vielleicht wollte sie auch, dass der Vampirismus ihre Seele für immer verdammen würde. Ihrer Tat folgte die sofortige Flucht. Sie packte ihre sieben Sachen. Doch als ob ihre Tat nicht schon schlimm genug gewesen wäre, schnitt sie ihrem Vater noch das Herz aus der Brust, wickelte es in ein Tuch und steckte es ein. Es sollte ihr Andenken an ihre Schuld sein, die sie sich niemals zu vergessen erlauben wollte. Und so lebte sie die nächsten Jahre ein unscheinbares Leben in Britain, wo sie inzwischen ein kleines, bescheidenes Haus bewohnte. Im bunten Treiben der Stadt würde niemand vermuten, welches dunkle Geheimnis sie tief weggeschlossen in sich trug.

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gelöschter Charakter_528
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Der Turm

Beitrag von gelöschter Charakter_528 »

Das zerklüftete Massiv, das im Herzen der Grafschaft Wolfenreich eine einsame Herrschaft führt, wird von Reisenden und Händlern gern gemieden und umgangen. Die auf den meisten Karten als Schwarzsteingebirge bezeichneten dunklen Gipfel und Zinnen, die sich wild in die Himmel strecken, verbergen ihr innewohnendes Unheil nicht. In den verlassenen Stollen und trügerischen Pässen haben ungezählte Schrecken und Ungeheuer Heimat gefunden, und selbst die wenigen noch bewirtschafteten Minen sind vom Blut der häufig überfallenen Arbeiter getränkt. Die wenigen sturen, abgeschiedenen Gehöfte fristen ein karges Überleben im Schatten der schwarzen Basalttürme, die von den abergläubischen Einwohnern als die zerrissenen Berge bezeichnet werden.

Die nördliche Flanke fällt steil in ein praktisch kaum bewohntes, wildes Niemandsland ohne Weg und Weisung ab, dichter Mischwald, der sich nach einigen Meilen bereits in den salzigen Wassern der Bucht der Gier verliert. Der Landstrich ist von den Mächtigen der Welt vergessen und ignoriert, die Mühe, einen Weg durch die Wildnis zu schlagen, erscheint zu groß, wenn die südliche Route so viel besser und sicherer zu bereisen ist.
ㅤㅤㅤ                 Die nordwestlichsten Ausläufer des Gebirges sind etwas heller, weicher abfallend, weniger zerrissen, und die Drachen und Chimären der dunklen Berge sind hier ein wenig seltener anzutreffen. Dort, weit unter der Baumgrenze, da, wo gerade die ersten wirklichen Felsen durch trockenes Gras brechen, steht ein einsamer Turm inmitten der Zypressen und Eichen, Pinien und sporadischer Eschen.

Der Turm, erbaut aus dem verwitterten Gesteinen des nahen Gebirges, ist alt. Vertrocknete Ranken klammern sich an die gerundeten Steine, ein mutiger, junger Baum kämpft nahe dem Sockel um Halt, und Flechten zieren die verbleibenden Zinnen wie Bärte. Die kleinen, gedrungenen Fenster sind so unregelmäßig angeordnet, dass sich entweder drei oder vier Stockwerke vermuten lassen. Einem aufmerksamen Betrachter fallen sicherlich die architektonischen Besonderheiten auf, ein winziger Balkon in der Höhe führt über eine schmale Außentreppe ohne Sicherung auf das flache Dach der Struktur, ein weiterer Balkon über dem Erdgeschoss endet in einem abrupten Abbruch, als wäre er einst eine Brücke zu anderen Zimmern gewesen.
ㅤㅤㅤ                 Denn wo der Turm recht intakt aussieht, von der Verwitterung der Quader einmal abgesehen, bietet das Areal um das Gebäude herum ein anderes Bild. Die verblichenen Reste einer vergangenen Architektur lassen nur noch erahnen, dass es hier einst ausgedehnte Strukturen gab, von denen nur noch Grundmauern und zerbrochene Pfeiler übriggeblieben sind. Schutt zerbrochener Steinmetzkunst, schlanke Bögen, am Boden zerbrochen, grasüberwucherte, gesprungene Bodenplatten – die Idee einer geplanten, kunstvollen Anlage liegt sicher nicht fern. Hier ist ein anderer Stein verwendet worden, heller Marmor, der, wer weiß, aus welchen Brüchen Velmorras, hierher transportiert wurde. Die Diskrepanz zwischen augenscheinlicher, ferner Vergangenheit und einer Natur, die nur äußerst zögerlich diesen Ort für sich zurückerobern will, ist tief.
ㅤㅤㅤ                 Zumindest das Schwarzsteingebirge hat sich Mühe gegeben. Ein ebenfalls lange vergangener Felssturz hat einen größeren Teil der angedeuteten Anlage unter Lawinenschutt begraben, ein aus hohen Gletschern stammender Abfluss strahlend blauen Wassers formt inmitten der alten Säulen einen kleinen Teich, bevor der Überfluss seinen Weg durch den Wald zum Meer hin sucht.
ㅤㅤㅤ                 In diesen Tagen gibt es weitere ungewöhnliche Merkmale: Der Turm selbst ist mit einer stabilen Holztür verschlossen, die sicher nicht älter als einige Jahrzehnte sein kann, zwischen den Pfeilern finden sich kaum sichtbare Pfade, die vom sturen, harten Unterholz befreit wurden, und am Teich findet sich eine kleine Sitzbank, ebenfalls nicht älter als nur ein Herzschlag im Dasein des Turmes. Und es ist still um diese alte Anlage, Vogelstimmen sind gedämpft, die Schreie der Füchse in der Nacht klingen nur von der Ferne herbei, und selbst die kundigsten Spurensucher finden keine Anzeichen von Wild, das den Teich als Tränke nutzt.
ㅤㅤㅤ                 Auffällig sind die hell gefärbten Eichhörnchen, die in größerer Zahl in den Bäumen umherspringen, Pinienkerne horten, und Wanderer mit unbesorgten, schwarzen Augen beobachten, während ihr ungewöhnliches Fell, hellgrau und unmeliert, sie eigentlich zu leichter Beute für Raubvögel machen sollte. Diese sammeln sich gelegentlich in größeren Schwärmen über einem nahen, niedrigen Gipfel, dem letzten sich hochstreckenden Finger des Gebirges, den sie zu diesen Zeiten eifrig umkreisen. Nur ein Vogelkundiger würde wohl vom Turm aus erkennen, dass es sich hierbei vor allem um Aasfresser handelt.

Die Ruine wirkt trotz der neueren Details unbewohnt. Im Sommer saugt der dunkel gewitterte Granit die Hitze der Sonne ein, Zikaden singen unablässig, und die Büsche und Ranken sind gelb und dürr. Im Winter wandelt tiefer Schnee die marmornen Bruchstücke zu tückischen Stolperfallen, es ist still, still, still und der Turm lädt niemanden ein, denn die unbeleuchteten Fenster sind so kalt wie der erstarrte Teich.
ㅤㅤㅤ                 Bei Tag ist der Ort einsam, ein Grabmal vergessener Tage, abweisend und schroff.
ㅤㅤㅤ                 Bei Nacht erblüht düstere Romantik und vom Mond verwunschene Erker werfen tiefe Schatten über den Ruinengarten.

Hier, Wanderer, Schatzsucher, Glücksritter, ist nichts zu holen.
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gelöschter Charakter_580
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Rückblick – Der Beginn einer Kriegerin

Beitrag von gelöschter Charakter_580 »

Nachdem Sziedeyna nach ihrer schrecklichen Tat das elterliche Haus für immer hinter sich gelassen hatte, lief sie einfach los. Sie wusste nicht, wohin. Sie kannte die Welt außerhalb ihres kleinen Dorfes gar nicht, obwohl sie so viel darüber nachgedacht und fantasiert hatte. Sie hatte von großen Städten gehört. Britain war ihr ein Begriff. So entschloss sie sich, im Wald zu übernachten und dann am nächsten Tag einen Reisenden zu fragen, ob er ihr den Weg erklären könnte.

Und so geschah es. Sziedeyna wartete auf einer Weggabelung eines moderat befahrenen Weges auf die passende Gelegenheit. Irgendwann zeichnete sich am Horizont ein Pferdekarren ab, der an ihr vorbeikommen musste. Als der Karren kurz davor war, Sziedeyna zu passieren, rief sie dem Fahrer zu:
„He! Könnt ihr für einen Augenblick verweilen? Ich suche den Weg nach … Britain.“

Der Fahrer war ein jüngerer Mann, so in seinen Dreißigern, und hielt den Karren prompt an, indem er seinen Pferden das Signal gab. Er sagte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen:
„Mädchen, das ist aber ein weiter Weg, den du da vorhast.“

Sziedeyna schaute ihn etwas länger als normalerweise üblich an, da es in ihr ratterte.
„Ähm ...“, sagte sie, „wie weit denn?“, fragte sie dann zögerlich.
„Sicher eine Woche mit der Kutsche … zu Fuß entsprechend länger.“

Er musterte sie demonstrativ und fuhr dann fort:
„Und besonders reisetauglich siehst du mir auch nicht aus.“

Sziedeynas Mimik und Gestik verrieten Ratlosigkeit. Sie kratzte sich am Hinterkopf und schaute ihn fragend an.
„Aber ich kann dich ein Stück mitnehmen“, sagte der Fahrer dann und behielt sein freundliches Lächeln.

Sziedeyna presste die Lippen zusammen, während sie über das Angebot nachdachte. Daraufhin nickte sie, die Augen abgewendet, ehe sie ihn wieder anschaute.
„Gut“, sagte sie knapp und näherte sich dem Karren. Den Augenkontakt haltend, kletterte sie langsam hinauf und setzte sich neben den Fahrer, mit einem vorsichtigen Abstand. Der nickte ihr freundlich zu und gab seinen Pferden wieder das Kommando, dass es weitergehen sollte. Der Karren setzte sich langsam in Bewegung.

Sziedeyna war nicht nach Gesprächen. Sie war generell keine gesprächige Person, auch vor den Ereignissen der letzten Nacht schon nie. Dafür hatte es ihr schon immer an Verbindung gemangelt zu ihren Mitmenschen. So blieb sie stumm neben dem Fahrer sitzen und betrachtete scheinbar zufällig die Szenerie, was jedoch nur darüber hinwegtäuschen sollte, was innerlich in ihr vorging. Da durchbrach die Frage des Fahrers die scheinbare Ruhe:
„Was bringt so ein junges Ding wie dich denn dazu, die große Stadt so mutterseelenallein besuchen zu wollen?“

Sziedeyna zuckte leicht zusammen. Sie schaute ihn an, nach einer geeigneten Antwort suchend.
„Ich besuche meine Tante. Meine Eltern sind krank.“ Sie suchte etwas in seinem Blick, das ihr versicherte, dass er ihre improvisierte Antwort schluckte.

„Ah!“, entfuhr es dem Mann, „das erklärt, warum sie dich nicht begleiten.“
Sziedeyna nickte ihm zu, innerlich Erleichterung spürend.
„Ja... leider“, setzte sie noch nach. Danach verfielen sie wieder ins Schweigen.

Nach einigen Meilen kamen sie in einen kleinen Ort.
„So, Endstation, jedenfalls für mich“, sagte der Fahrer, als er den Karren zum Stehen brachte. „Wir sind angekommen. Leider nicht Britain, aber weiter fahre ich nicht.“
Sziedeyna schaute ihn an und konnte die Enttäuschung nicht ganz verbergen. Der Mann zeigte ein mitleidiges Lächeln.
„Tut mir leid.“
Sziedeyna entgegnete mit einem knappen „Macht nichts, trotzdem danke“, und stieg vom Karren.

Der Mann lächelte ihr zu, während sie ihm langsam den Rücken zudrehte und sich umschaute. Dann drehte sie sich plötzlich wieder zu ihm um und fragte:
„Ähm ... und wo geht es jetzt von hier nach Britain?“
Der Mann überlegte kurz und beschrieb ihr dann den Weg:
„Wir sind hier auf der Hauptstraße. Der folgst du einfach in die Richtung weiter“, er deutete mit dem Arm die Straße hinab, „da kommt irgendwann eine Kreuzung. Da musst du links abbiegen, Richtung Norden. Die Straße führt dann direkt nach Britain. Das ist dann auch irgendwann ausgeschildert.“
Sziedeyna folgte seinen Anweisungen in Gedanken, während sich ihre Augen in verschiedene Richtungen bewegten und sie leicht nickte.
„Gut, danke“, sagte Sziedeyna knapp und wendete sich dann wieder von ihm ab. Darauf setzte sie sich in Bewegung und begann der Straße zu folgen.

Aber nur kurz, nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatte, stoppte sie der Mann mit seinem Ruf:
„Hey, Mädchen!“ – Sziedeyna blieb abrupt stehen und drehte sich langsam um.
„In ein paar Tagen wollte ich eh einmal hoch fahren. Wenn du dich solange gedulden kannst, würde ich dich mitnehmen.“ Sziedeyna zögerte. Der Mann fuhr fort:
„Du hast auch gar keinen Proviant. Ich könnte dir etwas aushelfen.“ Sziedeyna stand vor ihm wie bestellt und nicht abgeholt und schaute ihn an. In ihr arbeitete es derweil. Sie wusste nicht ganz, was sie tun sollte. Sie wollte eigentlich so schnell wie möglich Distanz zu ihrem Zuhause gewinnen. Andererseits hatte der Mann Recht. Ohne Proviant eine so lange Reise anzutreten, wäre unvernünftig gewesen. Ihr bot sich hier insofern auch eine Chance.

Sie fragte ihn dann:
„Aber wo kann ich schlafen? Ich habe kein Geld ...“
Der Mann überlegte kurz und sofort hellte sich sein Gesicht auf:
„Das kriegen wir hin. Du kannst bei uns übernachten und im Gegenzug hilfst du uns bei der Ernte.“
Innerlich zog sich bei diesen Worten etwas in ihr zusammen. Aber sie ließ das nicht nach außen dringen und warf dem Mann nur ein knappes Lächeln zu.
„Vielen Dank“, entgegnete sie ihm dann.
Den Mann schien das alles durchaus zu freuen. Sziedeyna hingegen verstand seine freundliche Zugewandtheit nicht wirklich.

„Peter!“, rief der Mann ihr plötzlich zu, Sziedeyna schreckte aus ihren Gedanken auf.
„Peter ist übrigens mein Name.“
Sziedeyna schaute ihn etwas überrascht an und zögerte einen Moment mit einer Antwort.
„Tina“, entfuhr es ihr dann.
Peter nickte freundlich und deutete ihr an, ihm zu folgen, was Sziedeyna tat.

Die Tage vergingen unspektakulär. Sziedeyna blieb wortkarg und antwortete so, wie sie dachte, dass es erwartet wurde, ohne sich je wirklich den Leuten nah zu fühlen, die ihr hilfsbereit ein Dach über dem Kopf boten.

Sie ging tagsüber mit auf die Felder und half bei der Ernte mit. Sie tat es nicht gerne, aber doch aus Überzeugung, dass sie eben das tun musste, was sie zu tun hatte, um im Leben weiterzukommen.

Die Mahlzeiten waren schlicht, aber sättigend. Sziedeyna hatte sogar ein eigenes Bett in einem kleinen Raum bekommen. Peter hatte ihr beim Bezug des Raumes erzählt, dass das Bett eigentlich seiner vor etwas über einem Jahr verstorbenen Tochter gehört hatte. Mehr als ein knappes „Oh“ hatte Sziedeyna nicht dazu zu sagen gewusst.

„Morgen werde ich nach Britain fahren. Die Ernte ist rechtzeitig fertig geworden“, erzählte Peter nach einigen Tagen.

Und so kam es auch. Nach dem Frühstück saßen Sziedeyna und Peter bald wieder auf dem Karren, der diesmal vollbepackt mit der jüngsten Ernte war.

Die Fahrt gestaltete sich ähnlich wie beim ersten Mal. Sziedeyna schwieg die meiste Zeit. Ab und an konnte Peter die Stille anscheinend nicht mehr ertragen und durchbrach sie mit einer Frage oder einer kleinen Erzählung aus seinem Leben. Sziedeyna bemühte sich, Fragen zu beantworten und ihm ein Minimum an augenscheinlicher Aufmerksamkeit bei seinen Erzählungen zukommen zu lassen. Innerlich aber war sie mit ihren Gedanken ganz woanders.

Sie war froh, endlich den Ort nach Tagen verlassen zu haben. Stets hatte sie sich vor einem plötzlichen Ruf wie „Ergreift die Mörderin!“ gefürchtet.

Aber nichts dergleichen war passiert. Vielleicht hielten sie sie auch gar nicht für die Täterin, dachte Sziedeyna zwischendurch. Ihr würde man das nicht unbedingt zutrauen, ohne eindeutige Hinweise.

Und dabei dachte sie auch immer wieder daran, dass sie ihren Vater ohne Herz vorgefunden haben müssen. Was sie dabei wohl dachten? Sie wusste es nicht, aber sie hatte wahnsinnige Angst, dass sie plötzlich irgendwo verhaftet würde.

All das mag Außenstehenden den Eindruck beschert haben, dass über ihr eine kleine unsichtbare Regenwolke hing.

Da die Reise mehrere Tage dauern würde, mussten sie auf dem Weg Zwischenstopps machen. Peter zahlte bereitwillig für sie, und um Sziedeyna kein schlechtes Gewissen zu bereiten, sagte er ihr, dass es noch immer die Bezahlung für ihre Erntehilfe sei.

Sziedeyna war es am Ende egal. Sie bekam, was sie wollte und in ein paar Tagen würde sie diesen Peter wohl nie wieder sehen.

Die Aufenthalte in den Tavernen waren für Sziedeyna etwas Neues. Hier befand sie sich auf einer größeren Handelsroute und dementsprechend groß kam ihr das alles vor.

Sie sah Zwerge, Elfen und Menschen verschiedensten Standes als Gäste. Sie tranken Bier und Wein, spielten Würfel, hörten Barden beim Musizieren zu und aßen herzhafte Mahlzeiten, die ihnen an den Tisch gebracht wurden.

Es war eine eigene Welt, die Sziedeyna so gar nicht kannte. Es fühlte sich an, als ob alle hier etwas anders waren als zuhause.

Manchmal setzten sich aufreizend gekleidete Damen mit an den Tisch von Männern und verschwanden später mit ihnen ins Obergeschoss.

Peter hielt sich aus dem Treiben eher heraus. Er behandelte das Personal freundlich, fragte Sziedeyna nach ihren Wünschen, und so blieben die Aufenthalte ohne Zwischenfälle.

Er schien ein lieber Kerl zu sein und sah in Sziedeyna wahrscheinlich etwas seine Tochter, auf die er aufpassen wollte.

Auf der letzten Etappe ihrer Reise geschah dann etwas Unvorhergesehenes.

Während Sziedeyna etwas geistig abwesend Peter zuhörte, vernahm sie auf einmal ein kurzes Zischen, auf das Peter plötzlich verstummte. Der Karren verlangsamte sich und kam schließlich zum Stand, da Peter die Zügel scheinbar losgelassen hatte.

Sie begriff erst, was passiert war, als Peter sich ihr körperlich aufzudrängen begann. Aber nicht, weil er sie belästigen wollte, sondern weil er anscheinend tot war – von einem Pfeil in die linke Schläfe.

Sziedeyna reagierte instinktiv und glitt fast wie eine Schlange vom Karren und an seine Unterseite. Dort hing sie sich wie eine Spinne unter den Boden.

So getarnt hoffte sie, dem Angreifer nicht weiter aufgefallen zu sein, der denken sollte, Peter wäre der einzige Insasse gewesen. Von der Pfeilrichtung zu schließen, hatte Sziedeyna blitzschnell ausgemacht, hätte sie dem Schützen wohl verborgen gewesen sein können.

Woher Sziedeyna diesen Überlebensinstinkt hatte, war ihr selbst nicht klar. Manche Menschen werden vielleicht damit geboren.

So verharrte Sziedeyna eine Weile, bis sie etwas hörte. Zwei Männer näherten sich dem Karren. Sie wusste anhand ihrer Stimmen, dass es Männer mittleren Alters gewesen sein mussten. Sie dachte an Banditen.

Die Männer lösten die zwei Pferde vom Karren, stießen Peter hinunter und durchsuchten ihn. Einer schnitt ihm seinen Geldbeutel ab. An der Ernte hatten sie offenbar kein Interesse. Kurz darauf entfernten sie sich wieder.

Sziedeyna wartete noch einige Minuten ab, ehe sie es wagte, sich aus ihrem Versteck zu lösen. Sie sondierte die Lage von unterhalb des Karrens und kam dann unter ihm hervor.

Keine Pferde und kein Geld. Sie seufzte, und ihr blieb nichts anderes übrig, als den Rest des Weges zu Fuß fortzusetzen. Dort bleiben konnte sie jedenfalls nicht, wenn nicht die nächste Kutsche sie für die Mörderin halten sollte.

Also nahm sie die Beine in die Hand, suchte den Waldrand auf und folgte dem Weg in einer parallelen Route.

Da sie nun deutlich langsamer unterwegs war, brach die Nacht herein, ehe sie Britain erreichen konnte.

So bettete sie sich auf etwas Moos und dachte grummelnd daran, dass sie jetzt etwas von dem Heu auf dem Karren gut hätte gebrauchen können, um nicht so zu frieren, da die Nacht echt kalt wurde.

Aber sie ergab sich ihrem Schicksal und trotzte der Kälte trotzdem, indem sie sich möglichst klein zusammenrollte und sich mit etwas Laub umgab.

Dauerhaft wäre das nichts für sie gewesen, so ohne jegliche Ausrüstung, aber diese eine Nacht würde sie überstehen, war sie fest entschlossen.

Am nächsten Morgen war sie durchgefroren, aber gleichzeitig feuerte sie auch die Aussicht an, ihr Ziel heute endlich zu erreichen.

Am späten Nachmittag war es dann tatsächlich so weit. Britains Zinnen schälten sich allmählich aus dem Horizont. Etwas später stand sie dann vor den Toren der majestätischen Stadt. Ehrfurcht durchfuhr sie. So etwas kannte sie bisher gar nicht. Diese Größe. Sie empfand zum ersten Mal wirklich Respekt vor etwas. Hier gab es was zu holen, dachte sie sich. Hier fand das Leben statt. Nicht wie in ihrer Heimat, in der die Menschen in ihren Augen ein Leben in der Bedeutungslosigkeit führten. Wenn es irgendwo Bedeutung gab, dann hier, da war sich Sziedeyna sicher.

Mit neuem Mut betrat sie daraufhin die Stadt. Es fühlte sich magisch an. Ob es jedem Landei so erging, fragte sie sich. Sie kam an einem Anschlagbrett vorbei und las die Anschläge. Viele Aufträge. Manche seltsam kryptisch. Sziedeyna dachte sich: „Wäre doch gelacht, wenn ich hier kein Geld verdienen kann.“

In ihrem Übermut riss sie einen der kryptischen Anschläge vom Brett und nahm ihn mit. Sie suchte umgehend die darauf genannte Adresse, fragte dazu ein paar Mal Passanten und stand schließlich vor einer kleinen schwarzen Tür. Sie war aus schwerem Holz und wirkte hochwertig, ohne gleich aufzufallen. Sie drückte dagegen und dachte erst, sie sei verschlossen, bis sie doch langsam nachgab.

Sie folgte einem Gang im Innenhof und suchte nach jemandem, den sie ansprechen konnte. Da fasste sie plötzlich eine Hand von hinten auf die Schulter. Sie erschrak, weil sie damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Ein alter berobter Mann mit langem Bart stand vor ihr.

„Mädchen, hast du dich verirrt?“, fragte er sie mit sonorer Stimme, sie gleichzeitig freundlich, aber auch etwas lauernd anschauend.

Sziedeyna musste sich erst etwas sammeln, bevor ihr eine Antwort gelang. Schließlich entgegnete sie: „Ähm, ich glaube nicht.“ und dann zeigte sie dem Alten den Anschlag.

Er erkannte sofort, worum es ging, und schaute Sziedeyna sehr zweifelnd an. Sziedeyna verstand die Geste und legte nach:
„Ich möchte arbeiten, nein, ich möchte Geld verdienen“, wurde sie langsam mutiger.

„Ah“, entfuhr es dem Alten, „bei Ersterem hätte ich dich vielleicht fortgeschickt. Wer will schon arbeiten? Aber Geld, ja, das wollen sie alle. Du bist mutig, hier so aufzutauchen. Weißt du überhaupt, wer ich bin?“

Sziedeyna schüttelte den Kopf, hatte aber das Gefühl, hier an der richtigen Adresse zu sein.

Der Alte lachte kurz auf. Sziedeyna fuhr aber sofort fort:
„Das ist mir eigentlich egal, ich will den Auftrag.“

Nun schaute sie der Alte anerkennend nickend an:
„Das ist eine weise Einstellung, Mädchen. Damit wirst du es vielleicht weit bringen.“

Sziedeyna hing an seinen Lippen, während er fortfuhr:
„Aber schau dich an. Wie willst du den Auftrag erfüllen, so wie du aussiehst? Keine Ausrüstung? Was kannst du überhaupt?“

Sziedeyna zögerte kurz und sagte dann entschlossen:
„Ich kann vielleicht nicht viel, aber alles lernen.“

Der Alte schmunzelte.
„Du hast Schneid, kleines Ding, das muss man dir lassen.“ Daraufhin lachte er nochmal. Kurz überlegte er anscheinend, bis er Sziedeyna dann sagte:
„Ich will dir eine Chance geben. Gehe in die Schmiedegasse und frage nach Dorkan. Sage ihm, Thalkor von Schwarzbrunn schickt dich, und er solle dich ausrüsten. Nun geh, Mädchen, und enttäusche mich nicht.“

Sziedeyna nickte ihm bekräftigend zu und machte kehrt, um das Anwesen wieder geschwind durch die schwere schwarze Tür zu verlassen. Wieder draußen wagte sie es zum ersten Mal, ihre Emotionen rauszulassen. Sie sprang in die Luft. Sie hatte es geschafft. Sie hatte den Fuß in der Tür von Britain und jemand war bereit, ihr zu helfen … wenn sie ihm half. Und das wollte sie.

Ausrüstung wartete auf sie. Sie fragte sich durch zur Schmiedegasse und dem Mann namens Dorkan. Irgendwann stand sie vor einem Haus mit einer Schmiede im Hinterhof. Sie betrat selbigen und schaute sich um, suchte nach dem Mann. Niemand schien da zu sein. Sie näherte sich dem Bereich mit Schmiedeerzeugnissen. Sie sah ein paar Rüstungen und Waffen. Diese übten auf sie fast eine magische Anziehungskraft aus. Sie fuhr mit der Hand über das Leder und den Stahl der Rüstungen, fühlte prüfend die Klingen und wollte gerade nach dem Heft eines Kurzschwertes greifen, da stoppte sie der plötzliche Ruf eines Mannes hinter ihr.

„Halt!“ Sziedeyna wandte sich abrupt um und erblickte überrascht den Mann, von dem der Ruf wohl ausgegangen war. Er fuhr fort:
„Auf frischer Tat ertappt. Mach dich auf Ärger gefasst, freches Gör!“

Sziedeyna schaute ihn mit weiten Augen an und fand dann erst ihre Worte wieder:
„Äh, ich wollte nicht stehlen, äh, Tha... Thalku, Thalkor von Schwarz...“

Der Mann unterbrach sie. „Thalkor hat dich geschickt?“
Sziedeyna fand nun ihre Sicherheit wieder:
„Ja, genau. Ich solle hier ausgerüstet werden.“

Der Mann lachte. „Du? Du willst Aufträge für Thalkor erledigen? Du bist doch noch ein halbes Kind!“
Sziedeyna entschied sich für dieselbe Masche, die schon bei dem Alten funktioniert hatte, und sagte nun selbstsicher:
„Was ich noch nicht kann, kann ich lernen!“

Der Mann lachte wieder.
„Kannst du denn mit einem Schwert umgehen?“

Sziedeyna zögerte. „Nun ... Erfahrung habe ich damit noch keine.“

Der Mann kratzte sich am Kopf und ging zu den Waffen.
„Nun gut, dann komm mal her. Das Schwert hier hattest du eben schon anvisiert, korrekt? Da hast du schon nicht schlecht gewählt. Vielleicht hast du ja so etwas wie eine natürliche Begabung. Ganz ehrlich, ohne die gebe ich dir keine Chance. Aber überrasche mich vom Gegenteil, oder eher, überrasche Thalkor. Falls du das nicht kannst, wirst du es nur einmal merken, weil du dann nämlich tot bist. Ist nicht mein Problem. Kapiert? Also das Schwert hier. Hm, bei deiner Größe passt keine der Rüstungen. Das muss ich anpassen. Ich würde dir zu dieser hier raten. Ist nicht zu schwer, viel Leder, aber an den entscheidenden Stellen auch Stahl. Du musst nicht gegen Menschen kämpfen, sondern dich nur gegen dummes Gesocks verteidigen. Wenn du das nicht kannst, Pech gehabt.“

Sziedeyna wurde der Ernst klar, mit dem sie es hier zu tun hatte. Die beiden Männer waren bereit, ihr Arbeit zu geben, aber wenn sie dem nicht gewachsen war, dann würden sie ihr keine Träne hinterherweinen. Sie atmete einmal durch und nickte ihm zu.

Er schloss dann das Gespräch ab:
„Geh einmal dort hinein und lass dir von meiner Frau die Maße nehmen. Dann komm in zwei Tagen wieder, dann kannst du alles abholen.“

Sziedeyna folgte dem, ließ die Maße nehmen und verließ daraufhin das Anwesen des Schmieds wieder. Nun musste sie die Zeit irgendwie überbrücken. Geld hatte sie noch keines. Aber die Ausrüstung bekam sie umsonst. Sie entschied sich, die zwei Nächte irgendwo in einer abgelegenen Ecke zu verbringen. Keinen falschen Stolz jetzt, dachte sie. Und so lebte sie für zwei Tage wie eine Obdachlose, aber mit der Hoffnung, bald etwas aus ihrem Leben machen zu können.

Die zwei Tage vergingen wie im Flug. Sie nutzte die Zeit, die Stadt zu erkunden und die Stimmung der Stadt einzufangen. Wieder in der Schmiedegasse betrat sie den Innenhof und fand den Schmied diesmal in seiner Schmiede vor. Laut erklang der Hammer auf dem Amboss. Sziedeyna nutzte eine Klangpause und räusperte sich. Der Schmied wandte sich um zu ihr.

„Ah. Du bist zurück. Ich habe mit Thalkor gesprochen und er hat bestätigt, dass er dich geschickt hat. Rüstung und Schwert sind fertig.“ Er deutete zu einer Puppe, die die Rüstung trug. Sie gefiel Sziedeyna. Sie war an ihre Größe angepasst und wirkte unscheinbar im Farbton, wie ein mattes Bronze mit dunklen Lederverbindungen. Dann holte er das Schwert und reichte es ihr, indem er ihr das Heft hinhielt. Sziedeyna ergriff das Schwert und hielt es vor sich. Sie versuchte dabei möglichst so zu wirken, als ob sie wusste, wie man ein Schwert führte.

Der Schmied schmunzelte leicht und fragte:
„Bist du sicher, dass du damit umgehen kannst?“
Sziedeyna schaute ihn an und konnte ihre Unsicherheit nicht ganz verbergen.

„Komm mal her, ich zeige dir, wie du es halten musst. Siehst du da die Übungspuppe?“ Er deutete auf eine zerschlissene Puppe, die wohl schon so manches abbekommen hat. Er führte sie an die Puppe heran und hielt ihre Hand mit dem Schwert darin mit seinen Händen umschlossen. „Kampfhaltung ...“

Es verging der ganze Nachmittag, den der Schmied mit Sziedeyna verbrachte, ihr das Wesentliche beizubringen. Ganz so egal war sie ihm vielleicht doch nicht. Vielleicht regte sich auch in ihm ein väterlicher Instinkt.

„Gut so, du machst das schon ganz gut. Jedenfalls nicht so, als sei es dir völlig fremd. Vielleicht hast du ja wirklich Talent. Deine größte Stärke ist deine Intuition. Anderen muss man das erst mühsam beibringen. Aber merk dir: Talent allein macht noch keine gute Kriegerin. Wenn du dein erstes Geld verdient hast, solltest du es für weitere Übung nutzen. Vor dir liegt ein langer Weg, sofern er nicht abrupt zu einem Halt kommt. Nun geh und stell dich Thalkor mit der Ausrüstung vor.“

Sziedeyna hatte in der Zwischenzeit auch die Rüstung angezogen und machte sich nun auf den Weg zur schwarzen Tür.

Dort angekommen, betrat sie das Anwesen wie bereits vor zwei Tagen geschehen. Wieder fand sie niemanden vor und wieder stand der Alte plötzlich hinter ihr, als hätte er sich aus dem Nichts manifestiert. Das war ihr unheimlich, aber sie versuchte es abzuschütteln.

„Gut, hat Dorkan dir was Schönes gemacht“, sprach er mit gewohnt sonorer Stimme. „Dann kannst du ja nun deinen ersten Auftrag erledigen.“

Sziedeyna versuchte möglichst selbstsicher zu wirken und nickte ihm nur zu. Nach einer kurzen Pause fragte sie aber:
„Und was wäre das genau?“

Der Alte schmunzelte leicht und fuhr dann fort:
„Du sollst den alten Friedhof außerhalb von Britain besuchen und dort etwas für mich finden.“

Sziedeyna schaute ihn fragend an:
„Und was genau?“

Der Alte reagierte prompt:
„Knochen, alte Knochen.“

Sziedeyna warf ihm einen skeptischen Blick zu:
„Dafür habe ich nun diese Ausrüstung bekommen, um lediglich ein paar alte Knochen auszubuddeln?“

Der Alte betrachtete sie amüsiert und entgegnete:
„Nun, nicht alle Knochen lassen sich freiwillig aufsammeln. Manche wollen sich wehren.“

Sziedeyna dachte nach und kurz darauf verstand sie.
„Ah.“

Weitere Worte brachte sie nicht raus.
„Kannst du das tun, Mädchen?“
Sziedeyna fasste sich ein Herz:
„Ja, ich werde euch nicht enttäuschen.“

Sziedeyna war bereits dabei, sich umzudrehen in Richtung Ausgang, da fragte der Alte sie noch:
„Wie ist eigentlich dein Name?“

Sziedeyna zögerte. Sollte sie ihm auch sagen, sie hieße Tina? Oder ihm reinen Wein einschenken? Hier war sie einerseits weit von der Heimat entfernt, und so wie ihr dieser Mann vorkam, hatte er sicherlich selbst etwas auf dem Kerbholz. Wer benötigt schon alte Knochen? Sie fühlte sich insofern sicher und entgegnete knapp:
„Sziedeyna.“

Dann wandte sie sich um und ging.

Sie fragte wieder ein paar Passanten, wo es denn zu jenem Friedhof ginge, und war nach einer knappen Stunde dort.

Verfallen und sich selbst überlassen lag er dort, die eine Hälfte des Eingangstores fehlte. Sie betrat den Totenacker mit vorsichtigen Schritten und schaute sich um. Das Schwert steckte noch in der Scheide. Sie ging weiter. Die Gräber wirkten uralt. Moos bedeckte die Grabsteine, deren Inschriften sich kaum noch entziffern ließen.

Sie visierte ein Grab an, das ihr intuitiv „gefiel“, und begann zu graben. Dazu hatte sie eine kleine Schaufel dabei. Tief genug stieß sie endlich auf Skelett-Überreste im Boden. Sie packte in einen Sack, was sie bergen konnte, und wollte sich gerade an das nächste Grab machen, da erhob sich der Boden plötzlich neben ihr.

Zuerst erblickte sie eine knöcherne Hand, dann einen Arm und schließlich erhob sich ein ganzes Skelett aus dem Boden. Sziedeyna erschrak. Das war es also, warum sie Rüstung und Schwert bekommen hatte. Aber wie „tötete“ man so ein Skelett? Es war doch schon tot. Das hätte man ihr vielleicht früher sagen sollen.

Instinktiv zog sie ihr Schwert und nahm eine Kampfhaltung ein. Das Skelett bewegte sich behäbig und langsam auf sie zu. Sie versuchte, das Skelett zu treffen, striff aber nur eine Hand, die aus vielen kleinen Knochen bestand, die sich wie eine Einheit leicht bewegten.

Dann versuchte das Skelett, sie zu schlagen. Sie wich zurück und schlug mit dem Schwert zu. Sie traf den Brustkorb, dem dies aber kaum etwas ausmachte. Sie überlegte angestrengt, während sie immer wieder zurückwich, was sie tun konnte. Das Skelett war nicht so schnell wie sie.

Nachdem das Skelett wieder versucht hatte, sie zu treffen, schlug sie gezielt mit dem Schwert durch den Hals des Skeletts und trennte dadurch den Schädel vom Rest. Sie wunderte sich, dass das klappte, da ja vorher eigentlich nichts wirklich die einzelnen Knochen zusammenzuhalten schien.

Als der Kopf zu Boden plumpste, wollte das Skelett nach ihm greifen, aber Sziedeyna war schneller und schnappte ihn sich. Sie rannte einige Schritte zum Tor zurück und sah, wie der Körper des Skeletts in sich zusammenklappte. Nach lautem Klappern kehrte wieder Ruhe ein.

Der Schädel jedoch wollte nach ihr schnappen. Sie erschrak und warf ihn auf den Boden. Dieser Aufprall schien das letzte verbliebene „Leben“ aus ihm herausgeprügelt zu haben, denn er blieb regungslos liegen. Sie hob den Schädel wieder auf und steckte ihn in den Sack mit den anderen Knochen.

Nun näherte sie sich wieder dem Knochenhaufen, der sie zuvor noch angegriffen hatte. Nichts mehr. Es war nur noch ein Haufen Knochen. Sziedeyna packte diese Knochen auch noch in den Sack, der ihr schon fast zu schwer geworden war. Sie achtete vorsichtig darauf, ob sich in dem Sack wieder etwas regte, aber er blieb ruhig. Die Kraft, die die Knochen einst beseelte, musste durch die Schläge vertrieben worden sein.

So machte sich Sziedeyna voll bepackt auf den Rückweg. Stolz kam in ihr auf. Sie hatte es geschafft und sogar einen Kampf erfolgreich gemeistert.

Zurück beim Alten lieferte sie den Sack ab. Dieser schmunzelte und nickte ihr anerkennend zu.
„Habe ich dich richtig eingeschätzt. Aus dir könnte was werden.“

Daraufhin übergab er ihr einen kleinen Beutel mit Goldmünzen. Als Sziedeyna das Gewicht in ihrer Hand spürte, konnte sie es kaum glauben. So viel Gold und so schnell verdient. Das sollte von nun an ihre Einkommensquelle werden.

Sziedeyna bezahlte anfangs eine Herberge und steckte das meiste von ihrem Einkommen in ihre Kriegerausbildung. Einige Jahre später konnte sie ein kleines Haus beziehen und lebte dank der unorthodoxen Tätigkeiten in relativ stabilen finanziellen Verhältnissen.

Sie hatte es geschafft und war in Britain sesshaft geworden.

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