Besen, Bier & Barrieren – oder: Wie ich aus Versehen eine Taverne gründete

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Bareti
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Besen, Bier & Barrieren – oder: Wie ich aus Versehen eine Taverne gründete

Beitrag von Bareti »

Episode I
„Besen, Bier & Barrieren – oder: Wie ich aus Versehen eine Taverne gründete“
Erzählt von Bareti, Wirtin aus Versehen, Magierin aus Gewohnheit

Moonglow.
Insel des Wissens. Ort der Bücher, der Portale – und der stillen, passiv-aggressiven Duelle zwischen Gelehrten, die sich gegenseitig mit Fußnoten beleidigen.

Ich erwachte dort.
In einem Garten nahe der Akademie. Nackt.
Nicht metaphorisch nackt. Tatsächlich nackt.

Das Gras war feucht, der Himmel leuchtete in allen Farben, und in meinen Händen lag ein Notizbuch. Türkis. Abgegriffen. Leer wie mein Kopf – abgesehen von einem einzigen Wort, das mir unaufhörlich in den Gedanken kreiste:
Bareti. Bareti. Bareti.

Es hörte nicht auf, dieses Flüstern, bis ich es aussprach.
Ich sagte ihn laut – zögerlich. Und obwohl ich nicht wusste, ob er mir gehörte… fühlte er sich an wie meiner.

„Bareti“

Dann wurde es still. Und der Name blieb.
Ich hielt ihn fest, wie das Buch – und von da an hielt er auch mich.

Die Akademie nahm mich auf – mit einem Stirnrunzeln, einer Decke und einem Stapel Formulare.
Und ich sog das Wissen auf wie ein trockener Schwamm, der aus Versehen in eine Alchemistenwanne gefallen war.
Und ich hörte nicht auf – saugte weiter, bis aus Staunen Gewohnheit wurde.

Ich lernte Magie.
Schnell. Zu schnell, sagten manche.
Ich studierte unter Gelehrten, erschuf kleine Wunder, dann größere – dann Unfälle, die man in Fußnoten vermerkte.

Ich wurde Meisterin. Dann Lehrende.
Ich verfasste Abhandlungen über arkane Harmonien. Hielt Vorträge, bei denen einer einschlief.
Und ließ versehentlich einen Professor durchsichtig werden (er war danach deutlich netter).
Ich forschte. Ich war jemand. Ich war gut.
Nicht bescheiden – aber gut.

Und dann... kam der Bruch.
Nicht wie ein Knall.
Eher wie ein leiser Schluckauf im Gewebe der Welt.

Plötzlich war da diese Unsicherheit. Erinnerungen, die nicht mehr ganz passten.
Ich hatte Erinnerungen an Menschen, die es nicht mehr gab. An einen Schüler, mit dem ich Nächte über Sternbilder sprach, der Fragen stellte, die mich zum Lächeln brachten – doch niemand außer mir schien ihn je gekannt zu haben.
Es war, als hätte jemand ein Kapitel in meinem Leben gelöscht, aber die Fußnoten vergessen.

Ich begann zu zweifeln.
An der Ordnung. An der Struktur. An meinem Platz. An mir.
Die Welt fühlte sich schief an.
Und ich – ich fühlte mich plötzlich fehl am Platz in meinen Roben, zwischen all den Büchern und Portalen.

Ich musste raus.
Ich wollte keine Runen mehr. Keine Portale. Keine Ratssitzungen, bei denen fünf Magier drei Stunden darüber diskutieren, ob man Elementargeister entsprechend von ihrem Geschlecht ansprechen sollte.

Ich ließ fast alles zurück, wortlos. Ich reiste. Rastlos.


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Ich wanderte, meinen treuen Stab in der Hand – durch alte Dörfer, durch neue Orte, durch Plätze, die sich gut, aber falsch anfühlten.
Ich durchwanderte ganze Landstriche, ohne einmal innezuhalten und begab mich auf Wege, die mich zu verschiedenen Wundern führten.

Bis ich an die windige Küste Moonglows zurückkehrte, in den Schatten der alten Bäume, wo ich einst meine ersten Zauber gewirkt hatte.
Ich wanderte über die Insel, durch Nebel und Sonnenschein.
(Ja, Moonglow hat auch gutes Wetter. Man muss nur lange genug warten. Oder sehr optimistisch blinzeln.)

Und da stand sie.
Versteckt zwischen Bäumen, am Rand eines Hains, halb überwuchert, halb eingestürzt – ganz und gar verlassen.
Eine Taverne.
Zumindest war sie das mal.

Kein Name stand über der Tür – nur ein verblichenes Holzschild, halb im Gras vergraben. Ich hob es auf.
Darauf: Ein kaum noch zu erkennender Kraken, verdeckt von Patina und Zeit. Acht Arme, einer davon seltsam verdreht. Ich wischte mit dem Ärmel drüber.
Keine Schrift. Kein Name. Nur dieses tentakelige Wesen, das mich vage missbilligend anzusehen schien.

Es hatte Charakter.
Und niemand hinterfragte eine Krake in Moonglow – hier hinterfragt man selten etwas, das nicht explodiert.

„Na gut…“, murmelte ich, und nahm das Schild mit.

Die Tür klemmte.
Natürlich klemmte sie.
Ich stemmte mich dagegen, Flüche auf den Lippen, die sogar den Türangeln die Schamesröte ins Holz trieben – bis sie endlich nachgab.

Drinnen war es still. Die Art von Stille, die wartet.
Ein paar Lichtstrahlen fielen durch schmutzige Fenster und warfen staubige Muster auf die Dielen.

Mit einer Bewegung meiner Hand ließ ich ein kleines Licht entstehen – ein schimmerndes Türkis, das über meine Fingerspitzen sprang und sich in der Luft sammelte.
Der Raum erwachte flackernd zum Leben.

Der erste Schritt setzte mich in ein Netz aus Spinnenweben.
Ich zischte leise, fuchtelte würdevoll mit dem Arm, stolperte gegen einen Hocker und stieß beinahe einen Krug um – leer, aber beleidigt.
Magie macht dich nicht weniger tollpatschig, nur eleganter dabei.

Ich atmete ein.
Holz, Staub, Moos – und etwas, das ich nicht benennen konnte.
Es roch nicht wie Verfall. Eher wie... alte Geschichten.
Nicht spannend genug, um sie sofort zu lesen. Aber so, dass man sie behutsam vom Regal nehmen würde.

Ich ging langsam durch den Schankraum.
Die Balken waren verzogen, die Dielen sprachen bei jedem Schritt.
Links stand ein Kamin, darüber ein leerer Haken – stumm wie eine Frage, auf die niemand mehr wartete.

Ich trat näher, stellte meinen Stab daneben: ein langer Wanderstab, einst türkis, nun durchzogen von einem rötlichen Glimmen – wie ein schlechtes Gewissen unter der Beize.
Dann hob ich, einer Laune folgend, das alte Schild empor und hängte es an den Haken.
Der Krake darauf blickte mich nicht an.
Er war einfach da.

Ich sagte nichts. Ich setzte mich auf den Tresen.
Schaute mich um.
Es war eine Ruine.
Und ich liebte sie sofort.

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Ich blieb.
Nicht weil es vernünftig gewesen wäre.
Oder bequem.
Oder überhaupt irgendeinem Plan entsprochen hätte.
Aber manchmal spürt man einfach, dass man angekommen ist – auch wenn der Ort nach feuchtem Holz und Enttäuschung riecht.

Also beschloss ich: Wenn ich schon bleibe, dann wird’s wenigstens warm.

Im Lager fand ich einen Haufen altes, aber brauchbares Holz – trocken genug, um zu brennen, feucht genug, um eine Herausforderung zu sein.
Ich schleppte es in den Schankraum, schichtete es sorgfältig im Kamin auf.

Dann saß ich davor. Und rieb zwei Steine aneinander.
Es war... romantisch gedacht.
Nach drei Funken und einem angesengten Ärmel wurde mir klar: Das hier war keine Prüfung der Götter, sondern einfach ein verstopfter Schornstein.

Also murmelte ich doch.
Ein kleiner Windzauber, direkt durch den Kaminschacht.
Ein halbes Vogelnest plumpste mir vor die Füße, der Rauch zog endlich sauber ab.
Ich schnippte mit den Fingern, das Feuer erwachte mit einem leisen Fauchen.

Nicht elegant – aber effektiv.
Der Raum wurde wärmer. Ein kleines bisschen weniger verloren.
Ich streckte die Hände zum Feuer aus, dann stand ich auf.

„Jetzt wird geputzt!“ Sagte ich – mehr mir selbst als der Welt.
Und ich tat es.
Mit Bürste, Besen und einer Menge sehr gewählter Flüche.

Ich schwor mir, keine Magie zu verwenden.
Zumindest nicht sichtbar.
Zumindest nicht viel.

Staub. Überall Staub.
Er hatte offenbar Generationen gebildet, kleine Republiken in Ecken gegründet und sich mit den Spinnweben verbündet.

Der Staub wich, langsam.
Der Boden kam zum Vorschein.
Und mit ihm... eine gewisse Würde.

Hinter einer alten Tür entdeckte ich das Lager.
Dunkel, aber vielversprechend.
Ich schuf ein weiteres kleines Licht, ließ es durch die Regale tanzen.

Und da – zwischen Spinnweben, gesplitterten Kisten und vergilbten Etiketten – stand es.
Ein einzelnes, rundes Fass.
Ich trat näher, klopfte dagegen. Dumpf, aber satt.
Ein prüfender Blick, ein winziger Zauber.
Apfelmost.
Nicht vergoren. Nicht verflucht.
Nur vergessen.

Ich lächelte. Und wollte es zum Tresen rollen.
Ganz ohne Magie.
Ehrlich.
Wirklich.

Ich stemmte. Es quietschte. Ich fluchte. Es bewegte sich eine Handbreit.
Vielleicht zwei.
Dann… ließ ich es ein wenig schweben.
Nur ein ganz klein wenig.
Ein winziger Impuls. Niemand hätte es bemerkt.

Ich stellte es hinter den Tresen.
Setzte einen Hahn an.
Zapfte.
Probierte.

Es schmeckte.
Nach Sommer.
Nach Freiheit.
Nach der Art von Tagen, die leise beginnen und sanft enden.
Nach „Bleib noch ein wenig.“

Oben richtete ich ein Zimmer her – das am wenigsten muffige.
Ein Bett. Ein Fenster. Frische Decken.
Kein Zauberstab. Kein Ritual. Nur Schweiß, Seife und ein besiegter Schrank.

Tage vergingen, leise und fast unbemerkt.
Ich sprach mit Horst, dem Krug.
Ich las mein Notizbuch.
Ich hörte dem Wind zu.

Dann, an einem verregneten Nachmittag, ging die Tür auf.
Ein großer, schweigsamer Mann trat ein.
Der Bart ein wenig verstrubbelt, der Blick ruhig.

Er sah sich um.
Ging zum Tresen.
Wählte einen Stuhl.
Setzte sich.
Knrrrk.

Er hielt inne. Stand auf.
Zog aus seiner Manteltasche einen winzigen Hammer – fast zierlich.
Dann einen Keil.
Er setzte ihn zwischen Sitzfläche und Stuhlbein. Tock.

Das Geräusch war kaum zu hören – aber das Knarren war verschwunden.
Der Hammer verschwand wieder in der Tasche.
Der Mann setzte sich.
Ich stellte ihm ein Glas Most hin.
Er trank.
Nickte.
Und irgendwann, ohne ein Wort, verschwand er wieder in den Regen.

Ich stand da.
Wieder allein.
Aber nicht mehr ganz verloren.

Vielleicht war das hier der Anfang.
Einer Geschichte, die nicht in Fußnoten endet.
Zuletzt geändert von Bareti am 19 Mai 2025, 22:58, insgesamt 5-mal geändert.
Bareti
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Saiten, Staub & ein seltsames Schlaflied – oder: Wie ich lernte, das Gästezimmer zu teilen

Beitrag von Bareti »

Episode II
„Saiten, Staub & ein seltsames Schlaflied – oder: Wie ich lernte, das Gästezimmer zu teilen“
Erzählt von Bareti, Wirtin in seltsamer Gesellschaft

Es war kein Ansturm. Keine langen Schlangen, keine übervollen Bänke, kein betrunkener Gesang unter der Decke. Aber... es kamen Menschen.
Oder zumindest Personen mit Durst, und das war in meinen Augen nah genug dran.
Einer der ersten war ein Fischer. Der schweigsame Typ mit wettergegerbtem Gesicht, das aussah, als habe es seit drei Jahrzehnten Wind, Wellen und schlechtes Essen getrotzt.
Er trank zwei Gläser, dann sah er mich an, als hätte ich ihm lauwarmen Nebel serviert.
„Da fehlt was“, murmelte er, und schob das Glas zurück.
Ich holte den Apfelmost aus dem Lager – das leicht überreife Fass, das ich schon in meinen ersten Tagen hier entdeckt hatte. Ein paar Spritzer Zitrus, etwas Sternanis, ein Hauch Magie – der Fischer trank, nickte, sagte: „Besser.“
Ich nannte es Hausmarke.
Ich machte ein Schild. Kein großes – nur „offen“ in wackligen Buchstaben. Es hing schief. Ich ließ es so.

Am Tag darauf erschien eine Frau mit einem Kräuterkorb, der aussah, als trage er ein ganzes Biotop spazieren. Sie sagte kein Wort, schnupperte nur einmal, sah auf den Most, sah auf mich – und ich reichte ihr zwei Flaschen.
Sie ließ ein paar Silberstücke zurück, lächelte und ging.
Ich zählte es als Sieg.

Langsam wirkte es so, als könnte aus dieser Taverne wirklich etwas werden. Kein Zentrum der Weltpolitik, keine Schänke voller Spione, aber vielleicht ein Ort, an dem Leute auftauchten, um... zu atmen.
Vielleicht sogar, um zu bleiben.
Und genau da kam er.

Nicht mit Pauken und Fanfaren, sondern mit einem leisen Lied auf den Lippen und einer abgewetzten Laute auf dem Rücken. Ein Wanderer, der aussah, als habe er mehr Straßen unter den Füßen als Haare auf dem Kopf – und Letzteres war immerhin beachtlich.
Er bestellte nichts, setzte sich einfach und begann zu spielen.

Er spielte keine Lieder, die man kannte – weder Trinklieder noch Hymnen. Seine Musik klang wie ein Gespräch mit der Luft.
Und dann begann er zu erzählen.
Von Städten, die im Regen dufteten. Von Bäumen, die sangen, wenn man schlief. Von einer Katze, die angeblich einmal eine Bibliothek leitete.
Und obwohl ich wusste, dass fast alles davon erfunden war, lauschte ich. Wie alle anderen auch.

Am Ende seiner Erzählung blickte er mich an – mit diesen warmen, leisen Augen, die Leute manchmal haben, wenn sie schon zu viele Geschichten in sich tragen.
„Ich habe kein Geld“, sagte er. „Aber ich zahle in Geschichten. Und in Liedern, wenn gewünscht.“
Ich sah ihn lange an. Dann blickte ich hoch zum oberen Stock, wo das Gästezimmer lag.
Ich erinnerte mich an diesen Entschluss – irgendwo zwischen einem Krug Most und einem melancholischen Moment vor dem Kamin –, dass ich der Welt mehr Ja sagen wollte.
„Nur für eine Nacht“, sagte ich.
Er verneigte sich.
Und lächelte.

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Doch nachdem die letzten Gäste gegangen waren, die Taverne sich wieder in diese stille, atmende Ruhe senkte, und der Barde weiter auf seiner Laute spielte, wurde mir bewusst:
Ich hatte vergessen, mir selbst eine Alternative zu überlegen.
Ich bereitete das Zimmer so gut vor, wie es ging – frische Decke, ein Fensterspalt für den Klang der Zikaden. Er dankte mit einem Blick, als hätte ich ihm ein Königsgemach überlassen. Ein nobles Opfer, fand ich ebenfalls.
Ein Anflug von Großzügigkeit, der mich selbst etwas überraschte.

Die anderen Gästezimmer? Nein. Ich erinnerte mich noch gut an das erste – wie viele Beine, Flügel und Zähne es einst behaust hatten. Ich hatte zwei volle Tage gebraucht, bis es bewohnbar war. Und so viel Enthusiasmus verspürte ich jetzt, mitten in der Nacht, wirklich nicht.
Also rollte ich mir eine Decke zusammen, schnappte mir ein Kissen und ließ mich im Schankraum nieder – direkt auf der Bank neben dem Kamin. Das Feuer war längst heruntergebrannt, aber die Steine gaben noch Wärme ab.
Der Holzduft, das leise Knacken des abkühlenden Raumes, und die träge Dunkelheit machten es fast… heimelig.
Fast.

Ich war müde. Mein Rücken war es weniger. Die Bank hatte Charakter – sprich: sie quietschte bei jeder Bewegung und versuchte, mir einen Splitter als Andenken zu schenken.
Die Taverne war ruhig.
Aber nicht leer.
Oben hörte ich das Knarzen von Dielen. Dann Musik. Leise.
Kein Lied, das man kennt. Kein Reim, keine Melodie, die einen mitzieht.
Sondern Töne, die flackerten. Wie Licht durch ein schmutziges Fenster.
Die klangen wie… Erinnerung.
Nicht meine. Nicht seine. Vielleicht gehörten sie einfach der Taverne.

Ich lag wach. Nicht unruhig. Nicht ganz wach. Nur… lauschend.
Und irgendwann dämmerte mir, dass ich genau das gesucht hatte.
Etwas, das nicht mit Zaubern kam.
Etwas, das durch Türen trat, wenn man es nicht erwartet.

Aber irgendwann muss ich eingeschlafen sein.
Und dann träumte ich.

Ich träumte, dass der Schankraum lebendig wurde.
Die Tische wippten im Takt, die Stühle klapperten rhythmisch mit den Lehnen, und die Theke – meine irgendwie lieb gewonnene, schiefe Theke – schnarrte ein tiefes Bass-Summen.
Aus dem Kamin stieg nicht nur Rauch, sondern Musik.
Und auf dem großen Sims über dem Feuer saß – mit verschränkten Tentakeln – eine Krake.
Sie spielte Harfe.

Ich weiß nicht, wie viele Arme eine Krake zum Harfenspiel braucht, aber in meinem Traum hatte sie exakt genug. Ihre Tentakel glitten über die Saiten wie Seide über Haut.
Die Melodie war… tröstlich.
Etwas zwischen Wiegenlied und Abschied.
Und die Möbel sangen mit.
Keine Worte – nur Töne.
Als hätte die Taverne selbst etwas zu sagen.

Und zum ersten Mal fühlte ich mich nicht nur als Bewohnerin dieser Mauern.
Sondern als Teil von ihnen.


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Als ich erwachte, war es still. Keine Musik. Kein Murmeln. Kein knarzender Schritt über mir. Nur die Sonne, die sich zaghaft durch das schiefe Fenster schob, als wollte sie fragen, ob sie schon stören dürfe.
Ich richtete mich auf, rieb mir den Nacken und verzog das Gesicht. Meine Wirbel knirschten wie altes Pergament.
Dann schöpfte ich mir halb schlafend das Wasser aus dem Krug und wusch mir das Gesicht, ohne groß darüber nachzudenken, dass ich einst in klaren Quellen magischer Wälder gebadet hatte.
Heute: Zinnkanne. Schankraum. Lebensziel unklar.

Ich ging nach oben.
Der schmale Flur antwortete mit leisem Dielenknarren auf meine Schritte, als würde er sich wundern, warum ich nicht durch eine Dimensionstür kam.
Ich öffnete die Tür zum Gästezimmer. Vorsichtig.
Leer.
Aber...

Das Bett war ordentlich gemacht, faltenfrei. Sogar das Kissen war ordentlich ausgeschüttelt.
Auf dem kleinen Nachttisch lagen – nichts. Keine Münze, kein Zettel, nicht einmal ein poetisch hingeworfenes Gänseblümchen.
Ich runzelte die Stirn. „Ordentlicher als ich...“.
Der Mann war fort. Einfach so. Ohne Abschied, ohne Gedicht, ohne weitere Erklärung.

Ich schloss die Tür hinter mir, ging die knarzende Treppe hinab – mit diesem leichten, pochenden Gefühl im Magen, das man bekommt, wenn man weiß, dass man irgendetwas übersehen hat.
Und dann sah ich sie, über dem Kamin.
Auf dem großen, rußgeschwärzten Sims, unter dem Schild mit der alten, kaum zu erkennenden Krake.
Eine Harfe.

Sie stand da, als hätte sie schon immer dazugehört.
Ihr Holz war dunkel, leicht verwittert, mit feinen Kerben. Die Saiten schimmerten im Morgenlicht, und am Hals verliefen eingeritzte Zeichen, die ich nicht kannte. Keine Magie, zumindest keine, die ich greifen konnte – nur Bedeutung, die sich hartnäckig jeder Analyse verweigerte.
Ich trat näher. Berührte sie nicht – ich wagte es nicht.
Aber in meinem Kopf spielte sie bereits.
Eine Melodie, irgendwo zwischen Abschied und Willkommen – als könnte jedes Ohr etwas Eigenes darin hören.

Und für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob ich träumte.
Oder ob die Taverne selbst wieder sang.

Ich ließ die Harfe dort, wo sie stand.
Nicht aus Angst, sie zu beschädigen – sondern aus Respekt.
Als wäre sie mehr als ein Instrument.
Als hätte der Barde nicht nur Saiten zurückgelassen, sondern etwas, das zwischen diesen Mauern Wurzeln schlagen konnte.

Ich stapelte neue Holzscheite im Kamin, entzündete das Feuer und hängte einen Wasserkrug drüber. Dann fegte ich den Schankraum, ordnete ein paar Krüge.
Die Taverne wirkte… anders.
Nicht voller.
Aber wacher.
Und ich?
Ich war noch immer mittendrin in all dem.
Draußen wurde es langsam heller.
Ein neuer Tag begann.
Und vielleicht, ganz vielleicht, war es der erste, an dem ich nicht nur ankam –
sondern blieb.
Zuletzt geändert von Bareti am 12 Mai 2025, 22:19, insgesamt 2-mal geändert.
Bareti
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Stühle, Späne & Spätschichten – oder: Wie ich lernte, Hilfe anzunehmen

Beitrag von Bareti »

Episode III
„Stühle, Späne & Spätschichten – oder: Wie ich lernte, Hilfe anzunehmen“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit zwei linken Händen, aber drei Ersatzfässern

Der Abend war still. Still genug, dass ich das Knistern des Holzes in der Feuerstelle zählen konnte. Zwei Gäste waren es heute gewesen. Eine Händlerin mit müden Augen und ein Seemann mit zu vielen Geschichten. Beide hatten längst den Heimweg oder das Heulager gefunden, und ich war geblieben – wie immer zuletzt.

Ich saß auf einem Fass. Nicht aus Faulheit, sondern aus Not. Einer der wenigen Stühle hatte vorhin unter besagtem Seemann kapituliert. Ein Bein nachgegeben, mit einem dumpfen Knacken. Er war nicht böse gewesen, eher überrascht. Ich auch.

Also hockte ich da. Vor mir: der Stuhl. Oder besser: das, was von ihm übrig war. Ich hatte ihn auf den Rücken gelegt, wie ein verwundetes Tier. Zwei Holzdübel lagen neben mir, einer davon gesplittert. In der Hand: ein Stück Bindfaden, das ich naiverweise als "Notlösung" bezeichnen wollte.

Das ist keine Reparatur“, murmelte ich. „Das ist ein Denkmal meiner Überforderung.

Ich überlegte gerade, ob ich ihn einfach als Brennholz in Betracht ziehen sollte, da hörte ich es: Schritte. Nicht hastig. Nicht zaghaft. Nicht wie jemand, der versehentlich eintritt – sondern wie jemand, der ankommt.

Da öffnete sich die Tür. Ganz ruhig. Ohne das Zögern eines Unbekannten. Und das, obwohl ich sie ganz sicher verriegelt hatte.

Ein Mann trat ein. Groß gewachsen, mit einem Umhang, der den Staub der Straße in dicken Schichten trug. Die Kapuze ließ sein Gesicht im Schatten, aber seine Haltung verriet keine Bedrohung – nur Zielstrebigkeit. In seiner linken Hand trug er eine Laterne. Alt, mit getöntem Glas, durch das ein warmer Schein drang, der sich mit dem Feuerschein im Raum vermischte, als wäre er schon immer hier gewesen.

Verzeiht die späte Störung“, sagte er mit einer kratzigen, aber tragenden Stimme. „Ich war unterwegs… und dann war da diese Laterne.“ Er hob sie leicht. „Lag einfach am Wegrand. Ich hatte das Gefühl, sie wolle mir etwas zeigen.

Ich stand auf – mein Fass ächzte – und trat einen Schritt vor. „Ihr seid willkommen. Das Feuer ist noch warm, die Getränke kühl.

Er nickte, trat ein und blickte sich um. Die Theke, die Kerzenreste, der schiefe Hocker. Dann blieb sein Blick an dem Stuhl hängen, an dem ich gescheitert war.

Ein lebendiger Ort“, murmelte er. „Noch im Aufbau. Aber mit Herz.

Ich deutete auf einen der wenigen heilen Stühle.

Setzt euch. Der da kippt nicht mehr – ein Schmied hat ihn gerettet. Ich hab noch einen Krug Most, wenn Ihr mögt.

Most ist gut.“ Er trat an den Kamin, stellte die Laterne auf den Sims, als würde sie dorthin gehören, und setzte sich dann. Nicht schwerfällig, aber mit Bedacht.

Ich brachte ihm den Krug, beobachtete, wie er einen Schluck nahm. Dann schaute er erneut auf den kaputten Stuhl.
Der hat schon bessere Tage gesehen.

Er ist nicht der erste, der heute aufgibt“, antwortete ich trocken.

Darf ich?“ Er deutete auf das schiefe Bein.

Ich nickte. Er nahm es auf, drehte es in den Händen. „Nicht unrettbar. Nicht gebrochen, nur nach Faserrichtung gesplittert. Ein wenig Leim, ein neuer Dübel.

Klingt nach Erfahrung.

Er zuckte leicht mit den Schultern. „Ich hab viele Stühle gesehen. Und manche repariert.

Er sagte es so, als wäre das alles. Keine großen Geschichten. Kein Drängen nach Bedeutung. Nur das, was notwendig war.
Ich ließ ihn gewähren. Wir redeten nicht viel. Ich räumte ein paar Krüge weg, legte ihm eine Decke bereit, und warf noch ein Scheit ins Feuer.

Er arbeitete konzentriert. Ohne Hast, ohne große Gesten. Irgendwann hörte ich das vertraute Knarzen des Stuhls – diesmal fest, kein Wackeln mehr. Er hatte ihn tatsächlich repariert. Einfach so.

Er sagte: „Das Feuer tut gut. Und der Ort.
Ich antwortete nicht. Manchmal ist Schweigen genug.

Später, als er eingeschlafen war – zusammengerollt auf der Bank, die Laterne noch immer auf dem Sims –, ging ich zur Tür. Ganz ruhig. Prüfend.
Der Riegel war ganz. Kein Knacken, kein Sprung. Ich hob ihn an. Spürte sein Gewicht.
Dann ließ ich ihn wieder sinken.
Man weiß nie, dachte ich, wann jemand Zuflucht braucht.

Ich schaute noch einmal zu ihm. Da lag er, ruhig atmend, ein wenig das Kinn auf die Brust gesunken. Und ich war froh, dass das Gästezimmer nicht wieder hergegeben werden musste. Noch war es mein Rückzugsort.
Aber morgen… morgen würde ich das zweite herrichten.

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Er war am Morgen fort, als wäre er nie da gewesen.
Nur der reparierte Stuhl, die zusammengelegte Decke und ein Krug, gespült und ordentlich an seinen Platz gestellt, blieben zurück. Und die Laterne – auf dem Kaminsims, wo sie noch immer brannte, obwohl ich sicher war, dass niemand sie neu entzündet hatte.

Kurz fragte ich mich, ob er wahrlich hier gewesen war...

Die Tage vergingen. Ich versuchte mich wieder am zweiten Gästezimmer, was bedeutete, dass ich einen alten Teppich ausschüttelte, mit einem Besen kämpfte (der dabei zerbrach), und fast in einem morsch gewordenen Bettgestell versank. Ich beschloss, eine Pause einzulegen. Eine längere. Vielleicht bis zum nächsten Mondzyklus.

Der Stuhl hielt. Das war erfreulich. Weniger erfreulich war, dass zwei andere beim Anheben knarzten, als wollten sie sagen: Wir sind als Nächstes dran.

Und dann, genau drei Abende später, stand er wieder in der Tür.
Thorian. Dieselben ruhigen Schritte. Derselbe Mantel. Und diesmal... ein Handkarren.

Ich hatte noch ein paar Stühle rumstehen“, sagte er.

Ich sagte nichts. Schaute ihn nur an. Dann auf den Wagen. Vier Stühle, fein gearbeitet, geschwungene Lehnen, stabile Beine. Und – ich hätte es fast übersehen, weil das Licht der Nachmittagssonne direkt in meine Augen fiel – türkisfarbene Sitzpolster.

Nicht einfach irgendein Blau. Türkis. Fast genau der Farbton meines Notizbuchs. Meines Wamses. Meiner Haare, wenn sie frisch gewaschen sind.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, mehr aus Reflex als aus Misstrauen.

Zufall?“, fragte ich.

Ich bin nicht blind“, sagte er und schob den Wagen über die Schwelle.
Das war alles. Keine Erklärung, keine Andeutung, woher er wusste, dass diese Farbe für mich mehr war als eine bloße Laune. Und ich fragte nicht weiter. Irgendetwas an seiner Präsenz verbot es, auf Antworten zu bestehen. Vielleicht war es die Laterne, die wieder leise knisterte, als hätte sie selbst ein Leben.

Er half mir, die alten Stühle wegzustellen – der, den ich vor zwei Nächten noch zu retten versucht hatte, war inzwischen endgültig auseinandergebrochen – und stellte seine vier Neuen an den runden Tisch beim Fenster. Ich hatte dort nie einen zweiten Tisch platziert, weil mir nie mehr als drei Gäste auf einmal geblieben waren. Aber jetzt... Jetzt sah es beinahe einladend aus.

Ich ertappte mich dabei, dass ich mich auf einen der Stühle setzte, kaum dass er stand. Und noch bevor ich mich über mich selbst ärgern konnte – zu eitel, zu sentimental – hatte ich ein Lächeln auf den Lippen. Der Stoff war weich. Und die Höhe stimmte. Meine Knie standen im perfekten Winkel zum Tisch.

Ihr habt ein Auge für... Maß“, murmelte ich.

Er nickte nur.
Und für Beine.

Ich lachte. Zum ersten Mal an diesem Tag.

Später, als die Sonne hinter dem Haus versunken war und ich überlegte, ob ich bald zum dritten oder vierten Mal versuchen sollte, ein zweites Gästezimmer einzurichten, stand er wieder in der Tür, bereit wieder zu verschwinden.

Ich bleibe noch ein paar Tage in der Gegend“, sagte er. „Wenn ihr Hilfe braucht...

Ich sah zu meiner provisorischen Werkstatt – ehemals das Fasslager – und dachte an die Bretter, die ich schief zusammengenagelt hatte.

Ich brauche Hilfe“, sagte ich.
Keine Scham, kein Zögern. Es war einfach die Wahrheit.

Er nickte. Stellte die Laterne wieder auf den Kaminsims – sie hatte dort ihren Platz gefunden, ganz selbstverständlich – und holte aus dem Wagen eine Decke.

Ich bleib beim Kamin.

Ich hätte ihm das Gästezimmer anbieten können. Aber ich tat es nicht.
Vielleicht, weil ich das letzte Mal selbst dort geschlafen hatte und die Vorstellung mochte, es weiterhin mein Rückzugsort sei.
Vielleicht, weil er nicht fragte.

Er zog seine Stiefel aus, legte sich in den Sessel – einen der wenigen alten, der noch nicht krachte – und streckte die Füße auf das breite Fensterbrett. Dann warf er sich die Decke über die Schultern, schloss die Augen und sagte nichts mehr.
Ich trat leise hinter den Tresen, schloss das Notizbuch, das noch dort lag, und schob es in meine Tasche. Dann ging ich zur Tür, überprüfte den Riegel – nicht aus Misstrauen, sondern aus Gewohnheit – und ließ ihn, ganz bewusst, offen.
Ich wusste nicht, ob ich je wieder zuschließen würde.

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Ich weiß nicht mehr genau, was mich geweckt hat. Vielleicht das leise Klacken von Holz auf Holz, vielleicht das ganz zarte Licht, das durch das schiefe Fenster fiel. Vielleicht aber auch einfach der Umstand, dass ich auf einem Strohsack schlief, mit einer zusammengefalteten Decke unter dem Kopf, da die alte Matratze endgültig aufgegeben hatte. Wie auch immer – ich war wach. Und die Taverne war nicht leer.

Die Laterne brannte noch immer. Nicht hell, nicht stolz, eher trotzig – wie jemand, der geblieben ist, obwohl alle anderen gegangen sind. Ich stand auf, schlüpfte in meine alten Schuhe und ging barfuß die knarrende Treppe hinunter, die ich eines Tages ganz sicher ersetzen würde. Oder ersetzen lassen würde. Ich war schließlich keine Schreinerin.

In der Werkstatt – dem alten Fasslager – hörte ich Thorian vor sich hin brummen. Kein Lied, nur Gedanken in Ton gegossen. Ich sah ihn nicht direkt, aber das Geräusch von gehobeltem Holz und das gelegentliche Klopfen eines Hammers sagten mir genug. Er arbeitete. Selbstverständlich. Ohne zu fragen. Ohne zu erklären. Ohne Lohn.

Ich ging in den Schankraum und blickte mich um. Der zerbrochene Stuhl war verschwunden – vermutlich schon repariert – und auf dem Tisch lagen einige Schrauben, ordentlich nebeneinander. Der Kamin war noch warm, das Feuer fast vergangen. Ich setzte mich auf einen der neuen Stühle, türkis und fast zu schön für diesen Ort, und ließ meine Gedanken wandern.

Da war so viel zu tun.

Ein Fenster ließ sich nicht öffnen. Die Tür klemmte manchmal. Die Treppe im hinteren Flur knackte beunruhigend. Das Gästezimmer Nummer zwei war noch nicht einmal als Zimmer zu erkennen. Und da war noch dieser Dachboden, den ich bislang nur von unten kannte. Und dann… dann war da ich.

Ich fühlte mich plötzlich klein. Nicht wegen Thorian – sondern wegen des Ganzen. Der Taverne. Der Geschichte. Des Anfangs. Ich hatte so viel versucht, hinter mir zu lassen. Verantwortung. Pläne. Erwartungen. Und doch saß ich nun hier, türkis gekleidet, mit einem Notizbuch in der Hand, das vor Ideen überquoll – und das leise Gefühl von Flucht im Nacken.
Ich klappte das Buch zu.

Dann stand Thorian da. In der Tür zur Werkstatt, ein Stück Holz in der Hand, an dem eine fein gearbeitete Armlehne entstand. „Willst du das Werkzeug lieber sortiert haben oder chaotisch lassen wie bisher?“, fragte er. Keine Ironie. Kein Vorwurf. Nur ein schiefer Blick mit einem Lächeln, das nicht viel brauchte, um echt zu wirken.

Ich lachte. Kurz. Leise. Und dann atmete ich durch. „Sortiert wär vielleicht gut. Sonst finde ich den Hammer nicht, wenn ich das nächste Mal einen Stuhl zerdenke.

Er nickte. Und verschwand wieder in der Werkstatt.

Ich öffnete mein Notizbuch erneut. Notierte:
Gästezimmer #2 ausmessen. Dielen prüfen. Frische Matratze organisieren, Bettwäsche. Farbe?
Dann strich ich das Fragezeichen.
Türkis.
Natürlich.

Später saßen wir schweigend am Tisch. Der Tee dampfte. Die Laterne stand auf dem Kaminsims und warf ein sanftes Licht in den Raum. Es war kein großes Schweigen. Kein bedeutungsschweres. Es war einfach da – wie zwei Menschen, die genug zu tun hatten, um Worte nicht zu brauchen.

Ich blickte auf die Stühle. Türkis. Weich. Wunderbar fehl am Platz – genau wie ich.
Und in diesem Moment dachte ich: Vielleicht wird das hier wirklich etwas.
Nicht perfekt. Nicht schnell. Aber echt.
Zuletzt geändert von Bareti am 12 Mai 2025, 21:49, insgesamt 4-mal geändert.
Bareti
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Zapfhähne, Zwiebeln & Zwergensinn – oder: Wie ich lernte, den Tresen zu teilen

Beitrag von Bareti »

Episode IV
„Zapfhähne, Zwiebeln & Zwergensinn – oder: Wie ich lernte, den Tresen zu teilen“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit Wams, Würde und wachsendem Verständnis

Der Wind hatte an Fahrt aufgenommen. Er fuhr durch das lose Gebälk über dem Seiteneingang, ließ die alten Schindeln klappern und trug den Geruch von nahendem Regen mit sich – feucht, eisenhaltig, schwer. Ich stand an der Türschwelle, eine Hand am Rahmen, die andere um einen Krug gelegt, in dem mein Most langsam zu warm wurde. Ale war nie meins gewesen, und Bier… naja, das überließ ich lieber jenen, die sich mit Schaumkränzen auskannten.

Seit Stunden hatte sich niemand blicken lassen. Nicht einmal ein verirrter Wanderer oder ein durstiger Krähenfuß. Ich seufzte leise und betrachtete mein halb geleertes Glas.

Vielleicht war ich meine beste Kundin.

Ich dachte gerade darüber nach, ob ich das schiefe Schild über der Tür nicht doch endlich neu aufhängen sollte – es hing seit Tagen schief, und eigentlich störte es mich nur, wenn ich nichts zu tun hatte –, als sich hinter der Biegung etwas bewegte.

Kein Pferd. Kein Wagen. Zu tief. Zu langsam. Und zu eigenwillig im Gang.

Ein gedrungener Schatten löste sich vom staubigen Weg und trat näher. Der Wind spielte mit einem Zipfel seines Mantels, doch der Rest wirkte, als hätte ihn seit Stunden nichts mehr bewegt. Breitbeinig kam er die letzten Schritte auf den Hof, mit dem Gleichmut eines Wesens, das sich von steinigen Wegen nicht beeindrucken ließ. Der Bart wirkte wie eine Rüstung. Die Nase war rot vom Wind. Die Augen aufmerksam, aber nicht neugierig – eher so, als hätte er bereits gewusst, was ihn erwartet.

Er blieb stehen. Sah mich an. Sagte nichts.

Ich hob meinen Krug in einer halbherzigen Geste. „Wenn Ihr den Regen schlagen wolltet, seid Ihr gerade rechtzeitig.“

Er brummte. Es mochte Zustimmung gewesen sein. Dann fiel sein Blick auf das Schild über mir. Es hing schief.

Er hob leicht die Brauen. „Hm“, machte er nur. Ich sah nach oben. Natürlich, das Schild. „Ich nenn’s… rustikalen Charme.“

Er schnaufte leise, sah mich wieder an. „Du schenkst aus?“ „Wenn Ihr trinkt.“ Ein Nicken. Mehr nicht.

Dann trat er an mir vorbei, als gehöre ihm der Ort – nicht unhöflich, aber selbstverständlich. Ich folgte ihm mit einem kurzen Blick, strich mir den Saum meines türkisfarbenen Wams glatt, schloss die Tür hinter uns und ließ den Wind draußen.

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Drinnen ging er zielstrebig zur Theke, als hätte er sie schon einmal gesehen. Er setzte sich auf den mittleren Hocker – den, der nicht wackelte – klopfte einmal mit der Faust auf das Holz und sagte nur ein Wort:

„Bier.“

Kurz musste ich grinsen. Erst vor wenigen Tagen hatte ich begonnen, mein Sortiment zu erweitern – ein dunkles Bier aus Moonglow war neu im Keller, für jene Gäste, die weder Most noch Wasser oder Tee mochten. Dass es nun bestellt wurde, fühlte sich an wie ein kleiner Sieg.

Ich stellte meinen Krug ab und trat hinter die Theke. Der Zapfhahn klemmte leicht, wie immer. Ich begann einzuschenken – ruhig, bedächtig, mit dem Schwung, den ich für richtig hielt.

Er nahm das Glas, sah hinein... runzelte die Stirn. Trank. Und stellte es ab.

„Falsch.“

Ich blinzelte. „Entschuldigung?“

„Falsch eingeschenkt. Das ist...“ – er wedelte mit der Hand – „...nicht richtig. Der Schaum – zu viel. Und du hast den Zapfhahn zu früh abgezogen.“

„So hab ich das immer gemacht. Hat nie jemand gestört.“

„Mich stört’s.“

Er ging um den Tresen herum, nahm mir den Krug aus der Hand, stellte das Glas beiseite, griff nach einem frischen. Ich wollte etwas sagen, doch es war zu spät. Der Zwerg griff zum Zapfhahn, murmelte etwas, drehte prüfend und justierte ihn neu. Dann erst zapfte er. Ernst. Präzise. Als wäre Bier eines der Elemente, das von der Welt in Balance gehalten werden musste.

Als das Glas vor mir stand, war der Schaum perfekt. Der Geruch kräftiger. Die Farbe goldener, irgendwie.

„Da“, sagte er nur, ging wieder zum Hocker und setzte sich, trank.

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Der Zwerg sagte nichts weiter. Ich beobachtete, wie sein Blick durch den Raum glitt – abschätzend, fast prüfend, als würde er sich ein Bild davon machen, wie stabil die Balken über ihm waren.

Ich hätte beleidigt sein können. War ich vielleicht auch, ein wenig. Aber irgendetwas an der Art, wie er zapfte – dieses stoische Selbstverständnis, als sei das Einschenken eine jahrhundertealte Kunst – ließ mich schweigen.

„Ihr macht das öfter, was?“, murmelte ich.

Er brummte. Das konnte alles bedeuten – Zustimmung, Gleichgültigkeit, Hunger. Vielleicht alles zugleich.

„Und was macht Ihr sonst, Herr Zwerg? Wenn Ihr gerade nicht Wirte belehrt?“

Keine Antwort. Stattdessen nahm er einen weiteren Schluck, musterte die Theke, als wolle er sie nachbessern, und wischte mit einem Finger über eine Stelle, die – zugegeben – ein wenig mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

„Hm“, machte er wieder.

Ich rollte innerlich die Augen und griff nach einem Tuch. Was auch immer ich erwartet hatte – Konversation war es offenbar nicht.

Da öffnete sich die Tür erneut. Der Wind brachte eine Ladung kühler Luft mit sich und einen vertrauten Geruch nach Fisch, Seetang und einem Hauch von nassem Leder.

„Lady Bareti!“, rief der Fischer, bevor er ganz eingetreten war, „ein Glas von deiner Hausmarke, wenn’s recht ist.“

Ich lächelte. Der Fischer kam unregelmäßig, aber wenn er kam, wusste er, was er wollte – und blieb selten lange. Ich griff unter den Tresen nach dem schweren Tonkrug, in den ich am Morgen frischen Most aus dem Fass gezogen hatte – mein Versuch, ihn mit ein paar Kräutern dezent zu verfeinern. Der Duft war leicht säuerlich, mit einer warmen Note. Ich schenkte dem Fischer ein Glas ein, ohne zu hetzen.

Er trat an die Theke, warf einen flüchtigen Blick zum Zwerg, sagte aber nichts. Der Zwerg auch nicht. Er trank schweigend weiter.

Der Fischer nahm sein Glas, nickte mir zu, lehnte sich an den Tresen.

„Schmeckt wie immer. Und das mein’ ich gut.“

Ich erwiderte das Nicken und ging um den Tresen herum, um am Kamin ein neues Scheit nachzulegen. Das Holz knackte leise, als es auf die Glut traf.

Hinter mir hörte ich das dumpfe Geräusch, als der Zwerg seinen Krug auf dem Tresen abstellte. Leer. Ich drehte mich halb um, da kam schon die nächste Frage:

„Hast du Zwiebeln?“

Ich blinzelte. „Zwiebeln?“

Ein Brummen. Mehr nicht.

Ich zuckte die Schultern und ging in Richtung Küche. Die Tür quietschte leise in der Angel, als ich sie aufzog.

Kaum war ich außer Sicht, hörte ich das vertraute Knarzen des Zapfhahns. Keine Hektik, kein Zögern. Er zapfte. Wieder. Als sei es sein gutes Recht.

Als ich zurückkam, stellte ich ein kleines Brett, ein Messer und ein Netz Zwiebeln auf den Tresen – direkt vor mir, bereit, sie zu schneiden.

Noch ehe ich den ersten Griff getan hatte, streckte der Zwerg die Hand aus, nahm sich eine Zwiebel, drehte sie langsam in den Fingern und entfernte die Schale mit einer geübten Bewegung. Kein Wort, kein Blick.

Dann biss er hinein. Roh. Ohne zu zögern.

Der Fischer sah kurz auf, sagte aber nichts. Ich auch nicht. Es war einer dieser Momente, in denen Worte einfach keine Chance hatten gegen das, was da gerade geschah.

„Ich hätte Euch auch gern eingeschenkt“, sagte ich beiläufig, während ich das Messer zur Seite legte. „Wenn Ihr gewartet hättet.“

Der Zwerg sagte nichts. Kaute einfach weiter.

Der Fischer hob langsam die Brauen. „Ich weiß nicht, was beeindruckender ist – wie er zapft oder wie er isst.“

Ich lächelte kaum merklich. „Beides hat… Eigenart.“

Der Fischer leerte sein Glas, klopfte es mit zwei Fingern leicht auf den Tresen. „Ich komme bald wieder, Lady Bareti. Solange der Most so bleibt und der Zwerg nicht alles Bier trinkt.“

„Beides liegt nicht in meiner Hand“, erwiderte ich.

Er grinste, zog seinen Mantel enger und verschwand hinaus in die dunkler werdende Dämmerung.

Ich blinzelte. „Ähm…“

„Warst weg“, sagte der Zwerg, ohne aufzusehen.

Er zog ein weiteres Glas heran. Dann wandte er sich mir zu. „Du brauchst dringend Zwergenbier.“

„Ich brauche was?“

„Zwergenbier“, wiederholte er. „Das Fass… das ist nett. Aber...“ Er tippte auf den Zapfhahn. „Das ist kein Bier. Das ist... flüssige Höflichkeit.“

„Und Zwergenbier ist... was genau?“

„Eine Erfahrung“, sagte er, als wäre das eine vollständige Erklärung. Dann wandte er sich wieder ab und bediente den nächsten Gast.

Ich ging langsam hinter den Tresen. Der Zwerg machte mir Platz, ohne Kommentar, als wäre es selbstverständlich.

Ich sah mich um. Alle waren versorgt. Niemand sah aus, als wolle er sich beschweren. Der Barde spielte, jemand lachte, und der Krake über dem Kamin schien fast zu schmunzeln.

Ich schüttelte den Kopf – aber ich lachte. Leise. Ein bisschen erschöpft.

Später, als der Abend ruhiger wurde und der Barde sich verabschiedet hatte, ging ich hinauf. Das zweite Gästezimmer war mittlerweile richtig gemütlich. Ich hatte noch einen Wandteppich aufgehängt, den ich aus dem Fundus des alten Vorratsraums gezogen hatte. Es roch nach Kräutern und Holz.

Ich blieb kurz in der Tür stehen, blickte auf das Bett, auf die ordentliche Decke, auf das kleine Fenster mit Blick zum Weg hinunter. Dann lächelte ich.

Er hatte nicht viel gesagt. Kaum etwas eigentlich. Und doch war da mehr in seinem Schweigen gewesen als in manchem langen Gespräch.

Ich wusste nicht, ob er morgen wiederkam. Oder überhaupt wieder. Aber ich hatte ein Zimmer hergerichtet. Für alle Fälle. Für Gäste, die nicht viel redeten, aber blieben, wenn sie wollten.
Zuletzt geändert von Bareti am 12 Mai 2025, 17:22, insgesamt 2-mal geändert.
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Zwischenspiel I – Der erste Versuch

Beitrag von Bareti »

„Theorie und Praxis oder: Ein Anfang ist selten glanzvoll – aber notwendig.“

Es war spät am Abend, als ich in den Keller der Taverne stieg, um ein neues Fass Hausmarke vorzubereiten – und erstaunt feststellte, dass sich das große, alte Fass bereits dem Ende zuneigte. Offenbar hatte sich mein hausgemachter Most bei den Reisenden in den letzten Wochen größerer Beliebtheit erfreut, als ich erwartet hatte. Und so stand ich da, die Kelle in der einen Hand, während die andere die kleine Lichtkugel, die ich beschworen hatte, vergrößerte. Ich murmelte: „So viel zum Vorrat.“

Ein rascher Blick auf den verbliebenen Pegel, ein schneller Vergleich mit den letzten Schankmengen – und ich kam zu dem wenig erfreulichen Schluss: Wenn der Verbrauch so anhielt, würde das Fass höchstens noch für drei, vielleicht vier Wochen reichen. Sechs nur, wenn ich die Gäste mit Wasser oder Geschichten ablenkte. Keine beruhigende Aussicht.

Ich setzte mich auf den untersten Stufenabsatz und überlegte. Wenn ich künftig regelmäßig Gäste beherbergte – und danach sah es aus –, musste ich eine verlässlichere Quelle für meine Hausmarke schaffen. Am besten eine, auf die ich mich verlassen konnte, ohne auf die Launen des Marktes oder zufällige Lieferungen angewiesen zu sein.

Ein Gedanke reifte. Warum nicht selbst? Richtig selbst. Kein improvisiertes Auffrischen gefundener Fässer. Kein Zukauf. Nein – von Grund auf selbst gekeltert. In dieser Taverne, mit meinem Wissen, mit meinen Mitteln. Nicht als Magierin. Als Wirtin. Vielleicht – mit ein wenig Hilfe von beidem.

Der Entschluss fiel mit derselben Klarheit, die ich mir für den künftigen Most wünschte. Und noch in derselben Nacht begann ich, die ersten Schritte zu planen.

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Ich hatte gelesen. Viel gelesen. Schriften aus einem Klosterarchiv – eine über traditionelle Gärprozesse, eine weitere über die Wirkung verschiedener Hefestämme und eine dritte über regionale Apfelsorten und ihre Säurewerte. Dazu eine Handschrift von Meisterin Valeira aus dem Zirkel der Alchemisten persönlich, die sich mit der Balance von natürlichen Süßstoffen und deren Wirkung auf Gärverläufe beschäftigte. Und schließlich ein altes, abgegriffenes Rezeptbuch, das ich im Fundus der Taverne entdeckt hatte – zwischen einem Ratgeber für Amphibienzucht und einer Sammlung nordischer Seemannslieder.

Ich notierte mir aus jeder Quelle sorgfältig das Wesentliche – in meinem türkisfarbenen Notizbuch entstanden Seiten voller Querverweise, Hefekennziffern, Reifezeiten, idealer Apfeldichten und Süßungsstrategien. Daneben kleine Skizzen von Gärballons, magischen Ersatzmethoden und einem eigenen Etikett.

Ich hatte einen Plan – sorgsam geschmiedet zwischen Theorie und Tatendrang, genährt von altem Wissen und neuer Notwendigkeit. Eine Vision, die über bloße Getränke hinausging: ein Trunk, der Körper und Geist gleichermaßen erfrischen sollte. Ehrlich, klar, mit einem Anflug von milder Süße und der Tiefe vergessener Obstgärten.

Ich begann bewusst ohne Magie. Der Most sollte auf eigener Kraft entstehen – ein Zeugnis handwerklichen Vermögens, ohne arkanen Einfluss. Als Grundlage wählte ich regionale Äpfel, sorgfältig ausgesucht, nicht zu süß, nicht zu mehlig, mit festem Fruchtfleisch. Die Händlerin am Markt war erstaunt über meine Auswahlkriterien und bot mir schließlich ein altes Rezept aus ihrer Familie an – es war rudimentär, aber nicht ohne Charme. Ich verglich es mit meinen Quellen, kombinierte die Ansätze und notierte einen finalen Ablauf in mein türkisfarbenes Notizbuch.

Das Keltern selbst war... nun, sagen wir: lehrreich. Die mechanischen Abläufe – schneiden, pressen, abfüllen – fielen mir schwerer als gedacht. Meine Hände, sonst an Federkiel oder Zauberstab gewöhnt, rebellierten leise. Doch ich hatte auch wochenlange Erfahrung als Wirtin gesammelt: das Schleppen von Fässern, das Reinigen von Krügen, das sorgfältige Abmessen für Mischungen – all das war mir nicht mehr fremd. Es half mir nun, Schritt für Schritt. Und so erfüllte ich jede einzelne Aufgabe mit Sorgfalt – einer Eigenschaft, die mir stets gegeben war und die mir schon in meiner Zeit als Magierin gute Dienste geleistet hatte.

Der Tonkrug stand anschließend zwei Wochen lang in einem kühlen, dunklen Winkel der Vorratskammer. Ich widerstand der Versuchung, früher zu kosten – auch das hatte ich mir fest vorgenommen. Kein Zauber, kein Eingreifen – nur Zeit.

Als ich schließlich das erste Glas einschenkte, beobachtete ich die trübe Flüssigkeit mit wissenschaftlicher Neugier. Der Geruch war… erdig. Der Geschmack? Überraschend herb. Leicht gärend. Kein Vergleich zu den Vorstellungen, die ich auf Pergament entworfen hatte.

Aus dem Augenwinkel glaubte ich fast, jemand hätte bei meinem ersten Schluck anerkennend geschnaubt – so, wie es manche Zwergenfreunde tun, wenn sie etwas Halbgelungenes mit einem Stirnrunzeln quittieren. Der Gedanke ließ mich schmunzeln.

Ich nahm noch einen Schluck, diesmal fast mit Trotz. Der Most war nicht schlecht – aber auch nicht gut. Ein Getränk auf der Suche nach sich selbst. Ich seufzte leise, holte mein Notizbuch hervor, schlug eine neue Seite auf und notierte:
„Ansatz zu grob. Klärung ungenügend. Geschmack unausgewogen. Kein Zauber – keine Wirkung.“
Und darunter, etwas kleiner:
„Nächster Versuch mit präziserer Kontrolle der Gärung. Gegebenenfalls mit arkaner Unterstützung.“

Ich hatte nicht versagt. Ich hatte begonnen.
Zuletzt geändert von Bareti am 12 Mai 2025, 18:40, insgesamt 2-mal geändert.
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Bandagen, Bäume & eine flüchtige Begegnung – oder: Wie ich lernte, in der Stille zu lauschen

Beitrag von Bareti »

Episode V
„Bandagen, Bäume & eine flüchtige Begegnung – oder: Wie ich lernte, in der Stille zu lauschen“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit Fragen im Gepäck und Erde an den Stiefeln

Die Sonne stand bereits tief, als ich den staubigen Besen gegen die Wand lehnte und in die Abendluft trat. Der Hinterausgang der Taverne, bislang wenig beachtet, führte mich über eine kleine, verwilderte Wiese – oder besser gesagt: das, was einst wohl ein hinterer Garten gewesen war. Man erkannte ihn kaum noch, zwischen wildem Gras, verstreuten Steinen und vereinzelten, vernarbten Beeten. Doch etwas in der Anordnung, im alten Pfad, der kaum sichtbar unter Moos verlief, ließ mich innehalten. Vielleicht ließ sich hier eines Tages wieder etwas anbauen, wenn man Geduld hatte.


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Die Wiese ging in sanften Wellen in einen alten Apfelhain über. Von der Taverne aus hatte ich oft seine knorrigen Silhouetten betrachtet, flüchtige Blicke zwischen Arbeit und Abendmüdigkeit. Doch bislang hatte es mir an Zeit gefehlt, ihm näherzukommen, die Rinde zu berühren, das Licht zwischen seinen Zweigen einzufangen – kurz gesagt, ihm mehr zu schenken als nur diesen kurzen Moment der Neugier.

Jetzt, mit den letzten Strahlen des Tages im Rücken, trat ich zwischen die knorrigen Bäume, die sich in losem Abstand voneinander erhoben. Ihr Laub raschelte nur leise im Wind, als hielten sie den Atem an. An den jungen Trieben hingen zarte Früchte – von der Größe zwischen einem Stein und einem Staunen, mit einem weichen Schimmer auf der Schale. Ich strich über eine davon, fast ehrfürchtig. Der Apfel antwortete nicht, doch irgendetwas in seiner Stille des Baumes fühlte sich wie ein Gruß an.

Moos bedeckte den Boden, in schattigen Mulden sammelte sich feuchtes Laub, und irgendwo in der Ferne sang eine einzelne Amsel. Ich ging weiter, langsam, als könnte ich den Ort sonst stören.

Zwischen den Bäumen lag ein umgestürzter Stamm, von Pilzen umrandet und fast vollständig dem Erdreich übergeben. Ich setzte mich darauf, ließ die Gedanken treiben. An einem Ast über mir pendelte ein Apfel, jung und unerfahren, noch zu grün, um geerntet zu werden – und doch ein Versprechen.

Vielleicht – dachte ich – würden irgendwann meine Hände Most aus solchen Äpfeln machen. Nicht jetzt, nicht morgen. Aber eines Tages. Wenn die Zeit reif war, die Bäume bereit und ich geduldig genug. Es war ein stiller Gedanke, der Wurzeln schlug, kaum sichtbar – wie ein Same im feuchten Boden unter meinen Füßen.

Auf dem Rückweg zur Taverne blieb mein Blick immer wieder an den jungen Äpfeln hängen. Wie sie wohl später im Jahr schmecken würden? Vielleicht süß und leicht herb. Ich nahm mir vor, es herauszufinden - Wenn die Zeit reif war.

Als ich die Taverne wieder vor mir sah, fiel mir eine Bewegung im Augenwinkel auf. Ein Mann ging langsam um das Gebäude herum, prüfte den Boden, als suche er etwas – oder als wolle er sich vergewissern, dass er hier richtig war. Kein Gepäck, keine Hast, nur eine stille Entschlossenheit in seinem Schritt.

Ich zögerte nicht lange und ging ihm entgegen.

„Seid Ihr auf der Suche nach etwas?“, fragte ich, und meine Stimme klang ruhiger, als ich mich fühlte.

Der Mann hob den Kopf, als hätte er mich nicht gleich bemerkt. Mittleres Alter, ein wettergezeichneter Umhang in den Farben der Landstraße – braun, grau, ein Hauch von staubigem Blau. Sein Blick lag nicht auf mir, sondern auf dem Hain hinter mir, der nun langsam in das Zwielicht glitt.

Er betrachtete mich einen Moment lang still, sein Blick blieb einen Herzschlag länger als gewöhnlich an meinem Gesicht haften. „Verzeiht“, sagte er dann, „aber Ihr wirktet eben – als wärt Ihr nicht ganz hier gewesen. Fast wie jemand, der einem alten Lied lauscht, das keiner mehr spielt. Habt Ihr geträumt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin wach.“

„Aber nicht ganz hier.“

Ein unsicheres Lächeln umspielte meine Lippen. „Ist man das je?“

Er nickte langsam. „Ich kenne das. Etwas zu wissen, das man nicht wissen kann. Jemanden zu vermissen, den man nie traf. Erinnerungen... wie Schatten von Licht, das nie schien.“

Ich schwieg, aber etwas in mir regte sich bei den Worten.

„Ihr seid nicht von hier, oder?“, fragte ich schließlich.

„Ich bin immer unterwegs. Auf der Suche. Nach Momenten.“

„Und habt Ihr einen gefunden?“

Er sah zum Apfelhain. „Vielleicht. Ihr habt das nicht angelegt, oder?“

„Nein. Der Hain war bereits hier, als ich kam.“

„Dann ist er wie Ihr“, sagte er. „Er trägt Früchte, ohne dass jemand darum bat.“

Ich lachte leise. „Ein hübsches Bild.“

Er schwieg einen Moment, als wolle er noch etwas sagen, doch die Worte verließen ihn nicht. Dann trat ein leichtes Bedauern in seinen Blick, kaum merklich, wie ein Schleier aus Dunst im frühen Morgen. Schließlich wandte er sich ab. „Ich sollte gehen“, sagte er leise, als spräche er nicht zu mir, sondern zu sich selbst – oder zu jemandem, den nur er sehen konnte.

Er machte ein paar Schritte, hielt dann inne. Ohne sich umzudrehen, sagte er leise: „Ich habe etwas dagelassen. Nicht für jetzt – vielleicht für später.“

Ich blieb unsicher einen Moment stehen, sah ihm nach, wie er langsam im Zwielicht verschwand – kein hastiger Schritt, kein Blick zurück. Nur dieser Satz, in seiner Schlichtheit beinahe zärtlich.

Aber es war sein früherer Ausspruch, der mich beschäftigte... Jemanden zu vermissen, den man nie traf.

Ein flüchtiger Gedanke stieg in mir auf, wie aus einer vergessenen Ecke meines Geistes: mein einstiger Lehrling. Fragend, ungestüm, voller Licht – und fort? Wie lange war das her, oder hatte es je stattgefunden? Noch während meine diese Erinnerung meine Gedanken umspielte, wie die Zunge eine Zahnlücke, verflog die Erinnerung.

Der Wind zog leicht an meinem Ärmel. Ich schüttelte den Gedanken nicht ab, aber ich ließ ihn still neben mir stehen, wie einen alten Bekannten. Dann trat ich zurück ins Haus.

Als ich den Schankraum durchquerte, lag ein kleines Bündel auf dem Tresen: getrocknete Kräuter, sorgfältig in eine breite Bandage eingeschlagen, als wäre sie nicht nur Schutz, sondern Teil des Geschenks. Der Knoten war schlicht, aber fest – wie von jemandem gebunden, der Heilung kannte, aber keine Aufdringlichkeit duldete. Beinahe wie eine Botschaft.
Kein Name. Kein Zeichen. Nur eine Geste. Ein Zeichen von Heilung.

Ich legte das Päckchen neben die Harfe auf den Sims des Kamins. Vielleicht würde sie eines Tages benötigt werden oder ihren Weg finden, falls sie hier nicht richtig war.


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Später am Abend, als das Feuer knisterte und der Tag sich endgültig verneigte, trat ich an den Zwerg heran, der es sich mit einem Hocker nahe des Kamins gemütlich gemacht hatte. Sein Becher war schwer, sein Blick wach, aber gelassen.

„Sagt, Herr Zwerg“, begann ich vorsichtig, „dieses Zwergenbier – ist das ein echtes Gebräu oder nur ein sehr überzeugendes Märchen?“

Er lachte kurz, tief aus der Kehle, als hätte ich ihn auf frischer Tat bei einem Scherz ertappt. „Echt.“

„Und hat es einen Namen?“

„Viele. Je nach Stamm, Berg und Braumeister. Aber fragst du nach dem guten alten Umrazim – dann fragst du nach Geschichten, die mit Gestein beginnen und mit Donner enden.“

Ich hob eine Braue. „Donner klingt… dramatisch.“

Er grinste breit. „Dramatisch war nur der erste, der es auf leeren Magen trank.“

Ich setzte mich ihm gegenüber und betrachtete den dunklen Rest in seinem Becher. „Und niemand außer Zwergen kann es brauen?“

Er schnaubte, nicht unfreundlich. „Niemand, der klug genug ist, es zu lassen. Zwergenbier ist mehr als Hopfen und Hefe – es braucht Gestein, Glut und Geduld. Und manchmal ein wenig Gesang.“

„Also müsste ich es importieren.“

„Wenn du welches findest, was nicht leicht ist – ja.“

„Und was hält ein Kenner wie Ihr von Apfelmost?“

Die untersetzte Gestalt zog eine Braue hoch. „Most? Von Menschen gemacht, meinst du?“

Ich nickte. „Ich habe es versucht. Zum ersten Mal, also ein eigener Ansatz. Und heute habe ich den ersten Schluck probiert.“

Er schnaufte, stellte den Becher ab und sah mich an, als prüfe er, ob ich scherzte. „Daher der Geruch. Aber du lebst noch.“

„Noch ja. Der Sud ruht in einem Krug in der Speisekammer. Ich weiß nicht, ob er taugt oder nur grollt – aber ich habe ihn mit eigenen Händen gepresst.“

Ein kehliges Lachen rollte aus ihm heraus. „Das ist schon mehr, als viele von sich sagen können“, brummte er. Dann, nach einer kurzen Pause: „Wenn du beim Most bleibst – zeig mir, wie du es versuchst. Ich sag dir nicht, was rein muss. Aber vielleicht, wann du loslässt.“

Es war das erste Mal, dass ich ihn so lange hatte sprechen hören. Seit seiner Ankunft waren seine Worte stets knapp gewesen – ein Brummen, ein Grunzen, manchmal ein Nicken, das mehr sagte als ein Satz. Aber jetzt… jetzt ließ er mich einen Blick auf etwas Tieferes werfen. Etwas, das in ihm schwang wie ein altes Lied, das man nur singt, wenn niemand zuhört.

Ich wollte gerade erwidern, da fiel mir auf: So viele Worte hatte er seit seiner Ankunft nicht gebraucht. Meist grummelte er, hob eine Braue oder ließ ein kehliges Lachen hören – aber dies war anders. Offen. Zugänglich, fast zart.

Er räusperte sich leise. „Ulaf“, sagte er nur.

Ich sah ihn an, überrascht. Kein Titel, keine Erklärung. Nur ein Name – wie ein Stein, der einfach da ist.

„Es freut mich, Ulaf“, sagte ich. Und das meinte ich auch so.

Dann sagten wir eine Weile nichts mehr. Aber die Stille war warm, wie das Knistern des Feuers, das sich zwischen uns legte wie eine Decke, die keiner von uns aussprechen musste. Ich sah wieder in die Glut, in der das Licht tanzte wie der Gedanke, der sich nun nicht mehr scheu anfühlte, sondern vertraut. Vor meinem inneren Auge glitt der Apfelhain vorbei, das leise Rauschen der Blätter, die zarten Früchte im Abendlicht.
Zuletzt geändert von Bareti am 12 Mai 2025, 18:39, insgesamt 2-mal geändert.
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Sand, Schatten & ein seltsames Stillstehen – oder: Wie ich lernte, dass Dinge manchmal ihren Weg selbst finden

Beitrag von Bareti »

Episode VI
„Sand, Schatten & ein seltsames Stillstehen – oder: Wie ich lernte, dass Dinge manchmal ihren Weg selbst finden“
Erzählt von Bareti, Wirtin zwischen Dingen, die sich selbst finden – und Menschen, die bleiben

Moonglow dämmerte. Kein besonderer Tag, kein großes Ereignis – nur das vertraute Rauschen der Wellen, das gelegentliche Knarzen der Fensterläden und der unverkennbare Duft nach altem Holz, Seeluft und der neuesten misslungenen Hafersuppe, die sich trotzig am Topfboden festkrallte, als wolle sie ein Mahnmal kulinarischer Selbstüberschätzung sein.

Ich saß auf der Schwelle meiner Taverne, die ich immer noch *nicht* umbenannt hatte. Der Name war nie geplant gewesen, nur stehen geblieben. Und doch fühlte sich „Die Taverne“ allmählich an wie eine Wahrheit, die sich selbst gefunden hatte.

Mein Blick lag auf dem Pfad, den Thorian vor Tagen entlanggegangen war. Er war bisher nicht zurückgekommen. Vielleicht würde er das eine Weile nicht tun, aber ich wusste, dass sich unsere Wege wieder kreuzen würden.

„Trotzdem besser als alles, was ich mit Magie je zusammengepfuscht habe,“ murmelte ich und nippte an einem Becher, dessen Inhalt eher Sud als ein Most war – säuerlich, trüb und so unentschlossen wie meine ersten Braunotizen. Eine bittere Erinnerung daran, dass manche Dinge sich eben nicht bannen, beschwören oder beschönigen lassen. Schon gar nicht Geschmack.

Ich hatte versucht, den Rest der alten Hausmarke mit meinem ersten eigenen Ansatz zu strecken. Natürlich misslang dies gründlich. Das Ergebnis war gerade so trinkbar – selbst für meine eigenen Ansprüche eigentlich ungenügend. Doch aus Trotz trank ich es lieber, als mir ein vollständiges Versagen einzugestehen. Für Gäste allerdings wäre es ein diplomatischer Zwischenfall in Krugform gewesen. Und obwohl ich nicht viele Gäste hatte, mochte ich die wenigen umso mehr – und hätte ungern jemanden mit einem missglückten Sud vergrault.

In meinem Notizbuch hatte ich später vermerkt:
„Notiz: Der Versuch, Gutes mit Schlechtem zu strecken, ruiniert beides. Erkenntnis: Selbst schlechte Magie verdirbt nicht zwangsläufig den ganzen Kreis – schlechter Sud aber jedes Maß.“
Ich trat schließlich wieder hinein. In der Stille, die hinter mir lag, knarzte das Holz unter meinen Schritten vertraut, fast beruhigend. Mein Blick glitt über den Kamin, in dem nur noch heiße Asche glimmte – träge und grau, wie ein Gedanke, der zu lange im Kopf gelegen hatte. Ich würde sie später entfernen müssen, dachte ich. Bevor sich wieder ein neuer Tag ans Feuer schmiegen konnte.

In einer alten Notiz hatte ich gelesen, dass Asche voller Mineralien sei – nützlich als Dünger für den Garten oder zur Geruchsbindung, wenn man sie unter die Latrine mischte. Seitdem hatte ich begonnen, sie aufzubewahren. Nicht alles aus alten Büchern war nutzlos. Manches roch nur so.

Und vielleicht war genau das die Erkenntnis, die mich in letzter Zeit immer häufiger leitete: Wissen – selbst das scheinbar Unspektakuläre – war nie Ballast. Es barg Möglichkeiten. Vorausgesetzt, man bewahrte es rechtzeitig.

Über dem Kamin, direkt unter dem alten Schild mit der immer vertrauteren Krake - mittlerweile fiel es mir gar nicht mehr schwer ihre Umrisse klar zu erkennen - lehnte die Harfe sorgfältig an ihrem Platz auf dem Sims. Direkt daneben lag das Bündel, dass der Fremde zurückgelassen hatte. Die Laterne spendete noch immer ein dezentes Licht und mein alter Stab schien von innen heraus zu glimmen. Ich sog all das einen Moment lang in mich auf – und griff dann seufzend zum Besen am Tresen. 

Und dann…
kippte die Welt – ganz leise, wie ein Gedanke, der plötzlich zu schwer wurde.

Nicht dramatisch, nicht laut. Kein Erdbeben, kein Zeitriss. Nur ein leiser *Klick*.
Eine lose Bodendiele neben dem Tresen gab nach. Ich rutschte mit dem rechten Fuß ab, stieß mir dabei schmerzhaft das Schienbein – und fluchte so laut, dass sich selbst der Besen diskret in die Ecke zurückzuziehen schien. Genervt griff ich nach dem, was mir den Schmerz eingebracht hatte, und wollte es gerade zur Seite schleudern, als ich erkannte, dass es sich um eine kleine Schatulle handelte. "Wenigstens kein weiterer losgerissener Balken", murmelte ich und hielt sie prüfend gegen das Licht. Sie war überraschend schwer für ihre Größe – und ließ etwas in mir schwingen, als hätte sie lange auf mich gewartet.

Ich ließ die Finger über das Holz gleiten, das kühl war und glatt geschliffen. Die kleine Schatulle war mit einem Siegel versehen, das mir seltsam vertraut vorkam – zu vertraut. Ein verschlungenes Zeichen, das ich nie bewusst gesehen hatte, aber das wie ein Schatten durch meine Gedanken huschte. Ich runzelte die Stirn, holte tief Luft und öffnete vorsichtig den kleinen Verschluss.

Darin lag eine Sanduhr – schlicht, aus Glas und hellem Holz gefertigt. Sie war kleiner, als ich erwartet hatte, fast zierlich, aber vollkommen intakt. Die obere Kammer war leer, als hätte sie eben erst ihre letzte Körnung preisgegeben. Die untere hingegen war gefüllt mit feinem, goldschimmerndem Sand, der sich so ruhig gesammelt hatte, als hätte ihn nie jemand aus der Ruhe gebracht.

„Eine Stunde, die schon vergangen ist,“ flüsterte ich.

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Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß. Die Sanduhr noch in der Hand, den Blick darauf gerichtet und doch in der Leere versunken, während die Zeit um mich herum offenbar vergessen hatte sich weiterzubewegen. Ich war versunken, tiefer, als ich es selbst bemerkte.

Der leise, schier unmerkliche Sog des Sandes fesselte meine Aufmerksamkeit. Zunächst glaubte ich, mich getäuscht zu haben – doch dann sah ich es immer deutlicher: Der Sand floss. Nicht nach unten. Sondern zurück nach oben. Körnchen für Körnchen stieg er wieder auf, wie in stiller Umkehr.

Ich hielt den Atem an, wagte nicht, mich zu rühren. Etwas an dieser Bewegung war falsch. Oder vollkommen richtig. Und genau das war das Beunruhigende.

Die Tür quietschte.

Ein Luftzug streifte meinen Nacken, und eine helle Stimme sagte: „Entschuldigt… ist dies die Taverne?“

Ich schreckte hoch, als hätte mich jemand aus einem Traum gerissen. Die Sanduhr war noch immer in meiner Hand. Und ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Als ich sie beim Aufstehen unwillkürlich bewegte, bemerkte ich im Augenwinkel, dass die obere Hälfte nicht mehr leer war.

In der Tür stand ein Mädchen – nein, eine junge Frau, kaum zwanzig Winter alt. Ihre Haare waren ein einziges lodernes Versprechen aus Kupfer und Feuer, gebändigt zu einem wilden Zopf, aus dem sich bereits die ersten Strähnen wieder befreit hatten. Ihr Gesicht war sommersprossig, offen, mit wachen, grünleuchtenden Augen, die neugierig durch den Raum wanderten. Ein einfacher grünlicher Mantel, ein Rucksack über der Schulter. Und ein zaghaftes, aber ehrliches Lächeln.

„Verzeiht die Störung“, sagte sie und schob sich etwas unsicher über die Schwelle. „Ich bin Nicoletta. Ein… ein Mann hat mir erzählt, dass Ihr hier Hilfe sucht. Er meinte, die Wirtin dieser neuen Taverne auf Moonglow hätte eine ruhige Hand, aber zwei linke Hände für den Besen.“

Ich musste blinzeln. Die Sanduhr legte ich unauffällig auf den Tresen, als wäre sie nie in meiner Hand gewesen. Nicolettas Stimme klang nicht vertraut – aber ihre Worte taten es. 

„Ein Mann? Zufällig groß, eher der ruhige Typ? Und ein Blick, als könne er jeden Sturm abschätzen, bevor er kommt?“

„Er hat mir den Weg erklärt und er trug ein seltsames Gewand – braun, mit eingewebten Mustern, als hätte jemand einen alten Vorhang mit Geschichten bestickt. Seine Haare waren lang, rot wie Herbstlaub, mit einzelnen grauen Haaren versehen. Und sein Blick... der war ruhig, als hätte er die Welt gesehen und beschlossen, nur noch das Wesentliche zu sagen. Ich weiß nicht, ob das wichtig ist…“

Ich lachte leise. Es war mehr ein Ausatmen mit Ton als ein wirklicher Laut, aber es reichte. Ich nickte ihr zu.

„Das klingt so absurd, dass es wohl stimmen muss. Ich hatte zwar nicht vorgehabt, Hilfe zu suchen – aber leider hat er dennoch recht … ich könnte sie brauchen.“

Nicoletta lächelte unsicher, trat näher an den Tresen heran und musterte den Raum mit einem Blick, der mehr wahrnahm, als ich zunächst gedacht hätte. Ihre Augen verweilten kurz auf der Harfe, wanderten zum Stab, und dann zur Sanduhr. Ohne es recht zu merken, war meine Hand dabei wieder näher an sie gerückt – nicht schützend, eher wie einer Eingebung folgend, als hätte etwas in mir entschieden, ihr nahe zu bleiben.

„Ich habe nicht viel Erfahrung im Schankbetrieb,“ begann sie zögerlich, „aber ich kann mit einem Besen umgehen. Und mit Menschen... manchmal auch.“ Sie zuckte mit den Schultern, als wolle sie gleich selbst relativieren, was sie gesagt hatte.

Ich nickte langsam. „Habt Ihr einen Ort, an den Ihr zurück müsst?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Mein letzter Ort war eher eine Richtung als ein Zuhause. Und als der Mann von dieser Taverne sprach, klang es nach einem Ort, an dem ich bleiben könnte – zumindest für eine Weile.“

Ihre Stimme senkte sich bei den letzten Worten, und ich hörte darin nicht nur Hoffnung, sondern auch Vorsicht. Jene zarte Zurückhaltung, die entsteht, wenn man zu oft vergeblich gehofft hat.

„Dann bleibt erst einmal. Kein Schwur, keine Versprechen. Aber ein Dach über dem Kopf, ein Platz am Feuer und vielleicht eine Mahlzeit, solange euch verbrannte Suppe schmeckt... oder Ihr zufällig kochen könnt.“

Nicoletta nickte, diesmal fester, und ich dachte kurz, ein Hauch von Erleichterung zu sehen, der über ihr Gesicht huschte. Ich umrundete langsam den Tresen, schob den Hocker zur Seite und griff nach zwei sauberen Gläsern. Das Wasser aus dem Tonkrug war kalt und klar – zum Glück war der Brunnen heute gnädig gewesen. Ich füllte beide Gläser und reichte ihr eines davon.

„Für den Anfang“, sagte ich. „Und wenn Ihr später auch meinen Most kostet, ohne zu fliehen, seid Ihr offiziell aufgenommen.“

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Ich erklärte Nicoletta kurz, wo die Asche hinmusste – ein kleiner Blecheimer stand im Hinterzimmer bereit, und ich zeigte ihr die Stelle hinter dem Geräteschuppen, wo ich sie sammelte, um sie später mit Erde und Kompost zu mischen. Sie nickte ernsthaft, nahm den Schürhaken zur Hand und machte sich an die Arbeit. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihr oben das Gästezimmer herzurichten: frische Bettwäsche, ein Krug Wasser, ein kleines Stück Seife auf der Fensterbank – es war nicht viel, aber es war ein Anfang.

Als ich wieder nach unten kam, roch es nach Holz und frischer Luft. Der Kamin war sauber, der Eimer ordentlich beiseitegestellt. Frische Scheite lagen im Feuerraum, sorgfältig aufgestapelt, darüber kleinere Hölzer und Anzünder, als wäre es eine Unterrichtseinheit für Anfänger im Feuermachen. Nicoletta war hinter den Tresen gewandert und dabei, mit einem feuchten Tuch über die Fläche zu wischen. Ohne zu fragen, ohne Aufhebens.

Ich lächelte. Vielleicht war Hilfe doch gar keine so schlechte Idee gewesen.


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Der Rest des Tages verstrich still, aber nicht ereignislos. Nicoletta blieb – und mit jedem kleinen Handgriff, den sie übernahm, wurde klarer, dass sie mehr war als eine zufällige Besucherin. Sie kehrte die Eingangsstufen, füllte eigenständig die Wasserschalen bei den Fensterbänken, sammelte die leeren Becher ein. Keine großen Gesten – aber es war genau das, was ich gebraucht hatte, ohne es benennen zu können. Sie war lernwillig und aufmerksam, bewegte sich beinahe selbstverständlich durch Räume, die vor wenigen Stunden noch gar nicht die ihren gewesen waren. Und sie sprach mit den Gästen, höflich, ruhig, manchmal mit einem trockenen Humor, der mehr wirkte als jedes Willkommenstablett. Vielleicht – so dachte ich, als ich sie beobachtete – war es eben das, was eine gute Tavernenhelferin ausmachte: nicht das Wissen, sondern das feine Gespür dafür, was getan – oder gesagt – werden musste, bevor man darum bat.

Ich zeigte ihr das Gästezimmer, das von nun an ihres sein würde. Sie trat ein, ohne ein Wort zu verlieren, sah sich kurz um und legte ihren Rucksack still an die Wand. „Zumindest für eine Weile“, sagte sie leise.

Etwas an der Art, wie sie das sagte, ließ mich innehalten. Vielleicht war es nur der Tag gewesen, oder die Ruhe danach, aber in mir regte sich der Gedanke, dass es tatsächlich länger werden könnte – für sie, für uns beide.

Ich ließ sie allein, schloss die Tür hinter mir und ging wieder hinunter.

Der Kamin war inzwischen fast verglommen, doch noch warm. Ich setzte mich davor, streckte die Hände zur verbliebenen Wärme – und fragte mich, ob das hier wirklich ein Zufall gewesen war.

Mein Blick hob sich zur Krake über dem Kamin. Ihre Umrisse wirkten heute schärfer, fast lebendig, als würde sie über das Treiben in der Taverne wachen. Darunter lehnte wie immer die Harfe, deren Saiten im Schein der Glut einen Hauch von Klang zu tragen schienen. Daneben der Stab – kein gewöhnlicher Wanderstock, das war er nie gewesen. Tief im Inneren glomm es rötlich, als würde etwas darin brennen. Nicht hell, nicht gefährlich – eher wie ein schwaches Echo. Und wenn ich lange genug hinsah, meinte ich ein sanftes Pulsieren zu erkennen, wie ein Herzschlag, der nur noch selten klopfte, aber nie ganz schwieg.

Auf dem Sims stand die Sanduhr – still, als sei nichts gewesen. Ich runzelte die Stirn. Ich hatte sie dort nicht abgestellt. Vermutlich hatte Nicoletta sie zur Seite gestellt, als sie hinter dem Tresen sauber machte. Oder sie war selbst hinaufgeklettert – was mir fast wahrscheinlicher schien.

Daneben die Laterne, die Thorian zurückgelassen hatte, ihr schwaches, doch warmes Licht warf ein flackerndes Muster an die Wand. Und ganz außen hingen die getrockneten Kräuter, sorgsam gebunden, ein Geschenk eines Fremden.

Fünf Dinge. Fünf Erinnerungen? Fünf Gründe? Ich wusste es nicht. Und doch wirkten sie, als hätten sie sich selbst versammelt. Nicht von mir zusammengetragen, sondern zusammengefunden – wie Dinge, die wussten, wo sie hingehörten. Irgendetwas verband sie. Vielleicht ich. Vielleicht die Taverne. Vielleicht mehr.

Ich blieb noch eine Weile dort sitzen, vor der Wärme, die längst mehr Erinnerung als Feuer war. Die Schatten der Gegenstände an der Wand wurden länger, verzogen sich mit dem letzten Licht, als wollten sie mir etwas zuflüstern – oder forttragen.

Als ich schließlich aufstand, streckte ich mich langsam und ging die knarrende Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Ein paar Stunden Schlaf würden reichen müssen.

In der Türschwelle blieb ich stehen. Mein Blick wanderte durch den Raum, der nun vertraut war, fast heimelig. Ein Gedanke formte sich leise, aber klar: Vielleicht… würde ich ein drittes Zimmer herrichten müssen.
Zuletzt geändert von Bareti am 12 Mai 2025, 17:19, insgesamt 1-mal geändert.
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Tinte, Tausch & ein Tropfen Magie - oder: Wie ich lernte, dass Sammeln auch ein Erinnern ist

Beitrag von Bareti »

Episode VII
„Tinte, Tausch & ein Tropfen Magie“ - oder: „Wie ich lernte, dass Sammeln auch ein Erinnern ist“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit leisen Fragen und dem Blick fürs Verborgene

Es begann mit einem Löffel. Und einem Gast, der nichts zu zahlen hatte.

Der Morgen war grau, wie ein altes Pergament, das zu lange im Regen gelegen hatte, und ich hatte gerade einen Krug gespült, als er die Tür öffnete. Schlank, wettergegerbt, mit einer ledernen Rolle auf dem Rücken. Kein Schwert, kein Stab, nur ein Blick, der zu viele Wege gesehen hatte. Ich nickte ihm zu, wie ich es eben tue, wenn jemand friert und noch zögert, ob er bleiben darf.

Er blieb.

„Ich kann nicht zahlen,“ sagte er, kaum dass er saß, „aber ich schreibe. Karten, Verträge, Liedblätter. Ich habe das Schreiben gelernt, weil das Reden manchmal nicht reicht. Manches davon ist sogar leserlich, sagt man.“

Ich stellte ihm einen Teller hin. Und einen Becher. Und beobachtete, wie der Hunger mit jedem Bissen weniger wurde. Irgendwann breitete er das Leder aus und begann zu zeichnen – meine Taverne, von oben. Säuberlich, mit Maßangaben. Ich konnte gar nicht so schnell staunen, wie das Interesse wuchs.

Nicoletta kam zuerst. Sie wollte wissen, ob er auch Gedichte schriebe. Dann ein alter Trapper, der eine alte Karte gegen eine neue tauschte. Und bevor ich widersprechen konnte, lag der Tisch, an den er sich gesetzt hatte, voller Zettel, Federn, ein kleiner Bernstein, ein gewebter Beutel mit Pfefferminze, ein Stuhlbein (warum?), und ein gerahmtes Porträt einer Katze.

Hm,“ machte Ulaf nur, als er eintrat. „Bunt heute.“

Ich überlegte kurz, ob ich beleidigt sein sollte, entschied mich aber dagegen. Stattdessen beobachtete ich das Treiben – und brachte Ale an den Tisch.

Der Kartograph, wie wir ihn bald nannten, zeichnete weiter. Er kartierte den Weg von der AAMaM zur Taverne, versah ihn mit kleinen Symbolen: einem Apfel für die Lichtung, einem Krug für den Bach, wo man rasten konnte. Jemand klebte die Karte an die Innenseite der Tür, und niemand nahm sie wieder ab.

Der Mann blieb bis zum Abend. Zeichnete, lachte leise, stellte Fragen. Und am Ende stellte er einen geschnitzten Löffel auf den Tresen. „Für den ersten Teller, den ich heute nicht bezahlen musste.“

Bald wurde daraus mehr als nur ein kurzer Tauschnachmittag. Es war, als hätte jemand einen Knoten gelöst, der zu lange gespannt war. Der Trapper brachte am nächsten Tag ein Bündel gegerbter Felle, die Nicoletta gegen einen Vers in Goldschrift auf Pergament eintauschte. Dann brachte jemand ein Paar gestrickte Handschuhe und nahm dafür ein Buch mit. Eine alte Frau ließ eine kleine Dose mit Knöpfen da, die am selben Abend in einem selbstgenähten Beutel verschwanden. Und ein junger Bursche bot eine Flöte aus Kirschholz gegen ein Haarband aus rotem Garn.

Ich entschied das ganze zu fördern und stellte ein altes Regal aus dem Lager auf, in das man zurücklassen konnte was man nicht mehr benötigte für Ding, die man wollte. Später kamen zwei Kinder mit bemalten Steinen, einer davon mit einem kleinen Gesicht darauf. Ich legte sie auf das oberste Regalbrett, weil ich fand, dass Gesichter dort nicht fehlen durften.

Ein fahrender Händler, der zufällig vorbeikam, blickte lange auf das Regal. Dann zog er eine kleine Truhe hervor – darin eine silberne Brosche in Form einer Libelle. „Dafür brauche ich keine Bezahlung. Nur eine Geschichte.“ Ich erzählte ihm ausführlich, wie ich einmal versuchte, einen Zauber gegen Fruchtfliegen zu wirken, der stattdessen alle Zwiebeln im Umkreis hunderter Schritte unsichtbar machte. Er lachte so laut, dass der Löffel vom Kartograph, der auch seinen Weg ins Tauschregal fand, vibrierte.

Ich setzte mich später allein an einen der Tische und sah dem flackernden Licht der Laterne nach. Die Brosche glitzerte schwach, und ich fragte mich, wie viele solcher Geschichten wohl im Regal ruhten, noch ohne Worte. Vielleicht war das Regal nicht nur für Dinge gedacht, sondern für das, was wir damit verbanden.
Eintrag im Notizbuch:
„Das Tauschregal ist ein Spiegel. Nicht für Besitz, sondern für das, was Menschen wirklich brauchen, wenn sie nichts mehr haben: Verbindung. Vielleicht sollte ich beginnen, die Geschichten dahinter zu sammeln. Nicht alle öffentlich. Aber für mich.“
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Einige Tage später wurde das Regal schon fast zur Gewohnheit. Die Gäste betrachteten es kaum noch mit Verwunderung. Doch dann kam ein anderer Gast. Junger Umhang, alte Stiefel, und ein Blick, der weit gereist wirkte. Er sah nicht aus, als müsste er etwas tauschen. Er sah aus, als hätte er genug – und als wüsste er das auch. Er blieb lange davor stehen, rührte nichts an. Schließlich kam er zu mir.

Sucht Ihr auch... andere Dinge? Etwas, das nicht für ein solches Regal geeignet scheint?“

Ich blickte auf. Er lächelte nicht, aber seine Stimme war neugierig. Und ein wenig herausfordernd.

Was genau meint Ihr, Herr...?“ Ich ließ die Frage offen – wie ein angelehntes Tor. Nicht zu aufdringlich, aber bereit, ihn eintreten zu lassen.

Er antwortete nicht direkt. Stattdessen öffnete er eine schlichte, dunkle Hülle an seinem Gürtel und zog langsam einen Gegenstand hervor. Ein Zauberstab. Kein Schaustück, kein billiges Replikat, wie sie auf Jahrmärkten feilgeboten wurden. Sondern ein echter. Alt, mit Maserungen wie feine Risse im Lack eines Instruments. Ich spürte, wie meine Haut kribbelte. Reste von Magie hafteten noch an ihm, wie das Echo eines alten Liedes, das man nicht vergessen hat.

Solche Stäbe wurden nicht mehr gefertigt. Nicht, weil man es nicht wollte – sondern weil das Wissen darum, die Kunst und das magische Fundament, das sie einst ermöglichte, mit der Zeit verloren gegangen war. Wie so vieles, das still verschwand, ohne Aufhebens, aber mit einer Lücke, die niemand mehr zu benennen wusste. Jeder dieser echten Zauberstäbe war ein Unikat, getragen von der Absicht und dem Können seiner Erschaffer. Und wenn noch ein Hauch von Magie in ihnen verweilte, dann bargen sie vielleicht Hinweise, Spuren – Möglichkeiten, das Vergessene zu verstehen. Oder wenigstens zu erahnen.

Ich würde ihn abgeben,“ sagte der Mann leise. „Für Gold. Und eine gute Unterhaltung.“

Ich sah ihn lange an, sagte nichts. Aber ich holte zwei Becher. Wir redeten bis spät in die Nacht.

Am Morgen war der Stab bei mir geblieben. Er fand nie seinen Weg in das Tauschregal, vielmehr legte ich ihn zu den wenigen Gegenständen, die ich einst sorgfältig verwahrt, dann aber jahrelang nicht mehr angesehen hatte. Er erinnerte mich daran, dass manche Dinge nicht getauscht, sondern verstanden werden wollten. Und dass etwas in mir noch immer bereit war, genau das zu versuchen.

Und ich wusste: Das Regal allein reichte nicht. Es mochte genügen, um Krüge, Bücher oder Löffel zu tauschen – aber nicht, um Artefakte wie diesen Stab zu fassen. Es gab Dinge, die wollten einen anderen Rahmen. Diskreter. Persönlicher. Keine Gaben, sondern Angebote. Keine Tauschware, sondern Vertrauen.

Einige Tage später, beim Abstauben des unteren Regalfachs, schob ich eine kleine Notiz dazwischen. Nur wenige Worte, kaum sichtbar: „Fragt nach der Wirtin – stiller Handel möglich.“ Kein Aushang, keine Erklärung. Nur ein stiller Hinweis, für wache Augen.
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Ich ging an diesem Abend noch einmal hinunter in mein privates Lager, wo sich all das befand, was ich einst aufbewahrt hatte, ohne zu wissen, wofür. Der Stab lag nun dort, als hätte er nie woanders gelegen. Und neben ihm die Erinnerungen – an Kreise, an Gespräche, an Zeichen, die ich längst vergessen wollte. Aber vergessen war nie meine Stärke gewesen. Sondern Rätsel zu lösen und das Unbekannte zu verstehen.

Und vielleicht, dachte ich, sollte ich genau damit wieder beginnen – nicht nur zu sammeln, sondern zu verstehen. Nicht um das Vergessene zu bewahren, sondern um die Rätsel zu lösen, die ich damals zurückließ. Die Fragen, die zu lange unbeachtet blieben. Vielleicht war es an der Zeit, sie endlich zu stellen.

Eintrag im Notizbuch:
„Vielleicht ist es an der Zeit, nachzusehen, was ich damals nicht beantwortet habe. Manche Fragen hören nie auf, sie werden nur leiser. Und wenn man sie zu lange unbeachtet lässt, werden sie zu Rätseln. Vielleicht ist nun der Moment, an dem ich bereit bin, ihnen wieder zu begegnen.“
Zuletzt geändert von Bareti am 12 Mai 2025, 17:18, insgesamt 1-mal geändert.
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Zwischenspiel II – Zweiter und Dritter Versuch

Beitrag von Bareti »

„Ich habe schon Dämonen beschworen, die weniger aufwendig waren.“

Nachdem ich den ersten Mostversuch ausführlich analysiert hatte, beschloss ich, ihn nicht vollständig zu verwerfen. Stattdessen füllte ich einen Teil davon in ein kleines Fass ab – nicht aus Stolz, sondern als Referenz. Die Idee, ihn mit einem Rest meiner Hausmarke zu mischen, hatte ich bereits im ersten Anflug von Zweckoptimismus versucht. Das Ergebnis war ernüchternd: Schlechtes ließ sich nicht durch Gutes überdecken. Das Fass stand noch immer da – als mahnende Erinnerung daran, dass wahre Qualität nicht durch Tarnung entsteht.

Ich hatte lange gezögert, meine Kräfte bei etwas derart Profanem wie Most einzusetzen. Aber das hier war ja kein gewöhnlicher Most. Es war der Versuch, etwas Eigenes zu schaffen. Etwas, das bleiben durfte – und vielleicht, eines Tages, die Taverne selbst hervorheben konnte. Ein Trunk, der nicht nur schmeckte, sondern erzählte, woher man kam.

Der erste Zauber war schlicht. Ich ließ die Zeit im Innern des Bottichs minimal schneller vergehen, ein kontrollierter Zeitflusszauber, kaum spürbar. Nicht genug, um etwas zu verderben – aber gerade so viel, dass die Hefe schneller arbeiten konnte.

Als Novizin hätte ich nie gedacht, dass ich einen Zeitzauber einmal für vergorenen Apfelsaft einsetzen würde. Damals war Zeit etwas Kostbares, das man nur in Ritualen oder gefährlichen Momenten beschwor – nicht in einer Vorratskammer über einem Mostfass. Aber ich war nicht mehr die, die ich damals war.

Der zweite war zarter: ein Geschmackszauber, den ich früher benutzt hatte, um trübe Wasserschalen in den südlichen Lagunen trinkbar zu machen. Jetzt sollte er das Aroma der Äpfel klarer hervorheben, die Bitterstoffe etwas abmildern. Ich sprach ihn vorsichtig, mit den Fingerspitzen in der Luft über dem Gärtopf kreisend.

Ein leises Blubbern hob an. Der Duft war verlockend. Ich lächelte.

Einige Tage später stand ich mit einem Becher in der Hand und runzelte die Stirn. Die Gärung war zwar fortgeschritten, aber irgendetwas war aus dem Gleichgewicht geraten – ein beißender Geruch kam aus der Mostwerkstatt, als hätte der Zauber zu viel in Bewegung gesetzt. Es roch nicht nach Most. Es roch… faul. Ich hätte es wissen müssen: Zeit lässt sich nicht ungestraft beschleunigen.

Ich notierte später in mein Notizbuch:
„Most und Hefe sind keine toten Stoffe. Es sind lebende Kulturen – empfindlich, eigenwillig, reaktiv. Zeitmagie wirkt auf sie wie auf jedes lebendige Wesen: unvorhersehbar.“
Wieder hatte ich etwas dazu gelernt. Ich nahm mir vor bald einen neuen Versuch zu starten. 

Auch diesen Ansatz füllte ich für spätere Analysen ab, stellte jedoch sicher, dass das kleine Fass fest versiegelt war – der beißende Geruch hing mir noch Tage in der Nase. Ich stellte es ganz nach hinten ins Regal, mit einem gut lesbaren Etikett: „Nicht öffnen – es sei denn, du brauchst ein Lehrstück in Hybris.“

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Doch bevor ich den nächsten Most ansetzte, beschloss ich, nicht erneut auf bloße Intuition oder Zauber zu vertrauen. Ich wollte verstehen. Und dazu brauchte ich Daten.

Ich richtete eine kleine Versuchsreihe ein: Vier Tongefäße, beschriftet, nummeriert, jeweils mit leicht abgewandelten Bedingungen. In einem variierte ich die Temperatur, im zweiten die Hefemenge, im dritten die Gärdauer, und beim vierten fügte ich eine Prise getrockneter Apfelblüten hinzu – rein aus Neugier.

Täglich prüfte ich den Stand, notierte jede Veränderung, roch, schmeckte, verglich. Ich nutzte dabei einen einfachen Messzauber – ein altes Prüfzeichen, das ich in meiner Lehrzeit zur Stabilitätsmessung bei arkanaffinen Substanzen gelernt hatte. Seine Farbe wechselte subtil mit der Wärme – von blassblau zu goldgrün – und half mir, ohne Zahlen, aber mit Verlässlichkeit, meine Versuchsstellen einzuordnen.
Mein Notizbuch füllte sich rasch:
„Gärverlauf am Punkt der gleichbleibenden Wärme – dort, wo meine Haut keinen Unterschied zum Ton spürt – harmonischer als im Schatten der kühlen Mauer.“ – „Hefezugabe zu stark: unangenehme Bitternote.“ – „Apfelblütenaroma angenehm, aber instabil.“


Am meisten faszinierte mich jedoch der alte Prüfzauber selbst. Ich hatte ihn ursprünglich unter dem Namen "Lux Temperia" gelernt – ein subtiler Lichtfaden, kaum sichtbar, der auf Temperaturverläufe reagierte. Für Most aber genügte das nicht: Ich modifizierte ihn, verknüpfte ihn mit einem feinen Süßduftzauber aus der Aromenschule und schuf so meine eigene Variante: "Lux Pomari". Der Lichtfaden änderte nun nicht nur die Farbe nach Temperatur, sondern veränderte auch seine Länge je nach gärtypischem Energieausstoß – ein Resonanzwert, wie ich ihn nannte.
„Lux Pomari: geeignet für konstante Gärbeobachtung bei sensiblen Fruchtkulturen. Reagiert differenziert auf Temperatur und Zuckeraktivität. Potenziell auch bei Beeren einsetzbar.“
So jedenfalls schrieb ich es in mein Notizbuch – und unterstrich es. Zwei Mal.

Ich experimentierte mit Licht, mit Luftzufuhr, mit der Beschaffenheit der Gefäße. Selbst der Standort – nah an der Küche oder hinten im dunklen Vorratsraum – zeigte Wirkung. Die Erkenntnisse waren klein, aber bedeutend.

Es erinnerte mich an meine frühen Studienjahre im Zirkel: Das geduldige Beobachten, das schrittweise Verfeinern. Nur dass ich nun nicht an Formeln arbeitete, sondern an Geschmack. Und vielleicht war das letztlich das Gleiche.

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Der dritte Versuch begann mit Vorsicht. Ich wollte Magie nutzen – ja –, aber kontrolliert, gezielt, abgestimmt auf das, was ich inzwischen verstanden hatte. Keine Eingriffe mehr, die den Most überforderten, keine Zauber, die ihn zu etwas formen sollten, das er noch nicht war.

Ich entwarf stattdessen eine kleine Sequenz aus Schutz- und Beobachtungszaubern: ein leichter Schild gegen Verunreinigung, kombiniert mit einem überarbeiteten Lux Pomari, der nun auch auf übermäßige Hefeaktivität reagierte. Die Magie lag wie ein fein gesponnener Schleier über dem Ansatz – kaum spürbar, aber präsent.

Der Bottich war diesmal aus Kupfer. Nicht aus Not, sondern aus Experimentierfreude – und vielleicht ein wenig Aberglaube. Kupfer leitete nicht nur Wärme, sondern auch Magie gut, sagte man. Vielleicht würde es helfen.

Ich stand in der Morgensonne hinter der Taverne, eine Schale mit reifen, dunklen Äpfeln in der einen, eine Prise Lavendelstaub in der anderen Hand. Die Äpfel hatte ich aus dem Süden. Der Lavendel wuchs am Rand meines kleinen Hains. Ich hatte nicht nur gelernt, dass Most Zeit braucht – ich hatte auch begonnen zu verstehen, dass jedes Element ein Echo hinterlässt. Der vierte Versuch sollte ein solches Echo haben.

Die Gärung verlief ruhig. Kein Blubbern, kein Überschäumen, kein seltsames Glimmen wie beim letzten Versuch.

Ich prüfte täglich, verglich mit den vorherigen Versuchen. Notierte. Roch. Hörte dem Gärgefäß zu, als könne es mir etwas sagen und vielleicht tat es das sogar.

Es dauerte zwei Wochen ehe mein Gefühl und meine Zauber mir sagten, dass es Zeit wäre, den Ansatz zu testen und umzufüllen.

Er schmeckte nach Apfel. Und nach Lavendel, ganz zart. Der Geschmack war dennoch… unecht. Zu süß. Dezent kupfern. Die Aromen wirkten gestaucht, wie eine Erzählung, die zu schnell auf ihr Ende zueilte. Und vor allem: Er hatte keine Seele. Kein Echo. Kein Gewicht im Bauch. Er blieb nicht haften.

„Du schmeckst nach Arbeit, nicht nach Erinnerung“, sagte ich zum Becher. Dann schüttete ich ihn mit bedauernder Miene in den Abfluss hinter der Küche.

Ein Versuch mit Magie – und dennoch ein Fehlschlag. Aber zumindest lehrreich.

Auch dieser dritte Versuch fand seinen Platz in der wachsenden Sammlung: ein viertes kleines Fass, fein beschriftet und sorgsam versiegelt. Nicht, weil ich glaubte, dass er irgendwann genießbar wäre – sondern weil jede Stufe dokumentiert sein wollte. Für mich. Für das, was ich lernen wollte. Und vielleicht für jene, die später einmal fragten, warum es so lange dauerte, bis die Hausmarke schmecken konnte, wie sie schmecken sollte.

Ich holte mein vertrautes Notizbuch hervor und begann, Notizen zu machen. Über Gärdauer, Temperatur, Hefen und den Unterschied zwischen echter Reife und erzwungener. Und während ich schrieb, entstand in mir ein Gedanke, der sich anfühlte wie eine Wurzel, die langsam Halt findet:

Vielleicht musste ich nicht Magie stattdessen anwenden. Sondern gemeinsam mit dem Most arbeiten. Ihn nicht zwingen, sondern begleiten.

„Zu viel Kontrolle bringt Klarheit, aber keine Tiefe. Magie kann führen – nicht diktieren. Und Most, so scheint es, verlangt nach Begleitung, nicht nach Beherrschung.“


Ich lächelte.

Und begann, neue Äpfel zu suchen.
Bareti
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Siegel, Schankrecht & Schikane – oder: Wie ich lernte, dass Regeln nur gelten, wenn jemand hinsieht

Beitrag von Bareti »

Episode VIII
„Siegel, Schankrecht & Schikane – oder: Wie ich lernte, dass Regeln nur gelten, wenn jemand hinsieht“
Erzählt von Bareti, Wirtin ohne Wappen, mit einem Buch voller Fragen

Es war ein ruhiger Vormittag. Die Luft war feucht, aber nicht kalt, und die Taverne roch nach altem Holz, nassem Stein – und seltsamerweise: nach Rosmarin und Myrrhe. Das Kaminholz knisterte sanft, Ulaf werkelte draußen an seinem neuen Fassgestell, und ich war dabei, die Ränder eines alten Teppichs zu glätten, der sich immer wieder wie ein trotziges Tier aufrollte. Nicoletta summte hinter dem Tresen vor sich hin – und dann hörte ich sie an der Tür:

„Willkommen in der Taverne. Setzen Sie sich gern, ich bringe gleich etwas.“

Ein leiser Plausch, Schritte auf dem Boden. Nicoletta war freundlich wie immer, doch in ihrer Stimme lag ein Hauch von Neugier – oder Vorsicht. „Wasser? Natürlich. Ich frage gleich die Wirtin. Eine Frage noch – dürfte ich vielleicht auch ihren Namen erfahren?“

Ich seufzte leise, legte den Teppich zurecht wie er war, strich mir die Schürze glatt und trat nach vorn. Die Stimme, die ich im Flur vernommen hatte, gehörte zu einem Mann mittleren Alters – nicht jung, nicht alt, gepflegt bis in die Schuhspitzen. Sein Umhang war staubfrei, sein Bart akkurat gestutzt, und seine Fingernägel verrieten, dass sie selten mit Erde oder Tinte in Berührung kamen.

Nicoletta flüsterte mir zu: „Das ist einer von denen, die alles zu wissen scheinen wollen, bevor sie bestellen. Angeblich ein Kartograph oder Chronist, hat er gesagt – aber ich traue keinem, der beim Eintreten die Maserung vom Türrahmen zählt.“

Ich ging hinter den Tresen und grüßte freundlich. Er lächelte, aber es war ein Lächeln wie auf einem amtlichen Porträt. „Wasser bitte. Wenn möglich, aus einer amtlich geprüften Quelle.“

Ich zuckte kaum merklich mit den Augenbrauen, füllte ihm aber ein Glas vom frischen Quellwasser, das ich jeden Tag frisch aus der alten Brunnennische hinter dem Nebengebäude schöpfte. Er roch daran, als sei es ein kostbarer Wein, nippte dann mit ernstem Blick – und blinzelte überrascht.

„Das ist... tatsächlich ausgezeichnet“, sagte er nach einem Moment. „Ungewöhnlich klar. Und mit einem Hauch von... Gestein, fast mineralisch.“

Er stellte das Glas auf den Tisch, sah mich mit einem leicht prüfenden Blick an. „Darf ich fragen – füllen Sie dieses Wasser auch ab? Ich hätte Interesse an einer Flasche für meinen Heimweg. Selbstverständlich gegen eine angemessene Gegenleistung.“

Ich nickte leicht, griff wortlos unter die Theke und holte eine schlichte Tonflasche hervor, wie ich sie sonst für meinen Kräuteransatz verwende. „Wenn Sie das Wasser zu schätzen wissen, soll es Ihnen nicht verwehrt bleiben.“

„Seien Sie bedankt. Sie haben es hübsch hier“, fuhr er fort, der Blick ging zu den türkisfarbenen Stühlen. „Wird hier gerade renoviert? Oder betreiben Sie die Taverne schon länger?“

„Länger, als ich verstehe. Oder kürzer, als mir lieb ist. Je nachdem, ob man Herz oder Kalender befragt“, erwiderte ich.

Er nickte, machte sich Notizen in ein kleines schwarzes Buch, das aussah wie eine Mischung aus Reisetagebuch und Kassenprüfung – ein Buch, das zuvor keines Blickes gewürdigt worden war und offenbar erst jetzt wie aus dem Nichts in seiner Hand erschienen war.

„Und die Eigentumsrechte? Gehört das Grundstück Ihnen? Oder... ist es eine Art freies Gehöft?“

Ich sah ihn lange an. Dann: „Die Taverne gehört niemandem. Und gleichzeitig jedem, der sie braucht.“

Er notierte das. Wortwörtlich.


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Er blieb noch eine ganze Weile, und mit jeder Minute fühlte es sich weniger wie ein Gespräch und mehr wie eine Befragung an, getarnt in Höflichkeiten. Seine Fragen blieben stets an der Oberfläche – wie dick die Wände wohl seien, ob das Gebälk original sei, woher das Holz für die Fensterrahmen stamme – doch sie kamen in einer Frequenz, die kaum Luft zum Atmen ließ. Selbst Nicoletta war irgendwann auffällig lange in der Küche verschwunden. Ich antwortete ausweichend, gelegentlich auch mit gespielter Zerstreutheit, doch er notierte beinahe alles, gelegentlich nickend, als bestätige ich gerade eine Hypothese.

Als er endlich aufstand, tat er es mit jener übertriebenen Sorgfalt, mit der jemand signalisiert, dass er alles gesehen hat, was er sehen wollte. Er klopfte sich unnötig den Mantel ab – als sei Staub eine moralische Schwäche – und ging dann mit gemessenem Schritt zur Tür. Doch dort blieb er stehen, als hätte er etwas Entscheidendes vergessen. Dann drehte er sich noch einmal um, ging gemächlich zum Tresen zurück und nahm mit prüfender Geste die Tonflasche in die Hand, die ich ihm zuvor abgefüllt hatte.

„Ich will nicht vergessen, was gut ist“, sagte er und lächelte – zum ersten Mal beinahe echt. „Manchmal sind es die kleinen Dinge, die Ordnung verdienen.“

Er steckte die Flasche vorsichtig in eine lederne Tragrolle.

„Ach, eines noch“, sagte er und zog aus einer inneren Manteltasche ein pergamentenes Schreiben, verschlossen mit einem wächsernen Siegel. „Ich bin beauftragt, dies zu überbringen.“

Ich nahm es nur zögerlich an. Das Siegel war unverkennbar: der stilisierte Doppelkreis des Rates zu Moonglow, jener uralten Gilde der Ordner, Wächter, Schreiber und Gesetzgeber – die alles verzeichneten, was sich verzeichnen ließ. Auch die Dinge, die besser nicht notiert werden sollten.

Das Schreiben war höflich formuliert, aber der Ton war eine andere Sache:
„An die derzeit verantwortliche Person der sogenannten 'neuen Taverne',
Es erreichte uns die Kunde, dass sich im Bereich 7b, nordwestlicher Verwaltungsbogen der Außenbezirke Insel Moonglow, eine Stätte des öffentlichen Ausschanks befindet, deren Betreiberin weder ein gültiges Siegel zur Gewerbeanmeldung noch eine Handelsfreigabe nach § 3, Absatz 7 der moonglowischen Ordnung für Reisende Gastgewerbe (MORGe) vorzuweisen vermag. Ebenso fehlen derzeit Beherbergungsbefugnis, Getränkeausschankerlaubnis (moderat fermentierte Erzeugnisse eingeschlossen) sowie die historisch empfohlene Feuerstellenverifikation.
Wir bitten um wohlwollende Klärung. Eine verspätete Einreichung der erforderlichen Nachweise kann unter Umständen als Schuldeingeständnis gewertet werden.
Bitte beachten Sie zudem, dass auch das Fehlen eines offiziellen Katasternachweises sowie der ausstehende Eintrag in das Verzeichnis für soziale Gaststätten als weitere Verstöße gelten. Bei fortgesetztem Betrieb ohne Eintragung behält sich der Rat Maßnahmen vor, einschließlich, aber nicht beschränkt auf: vorübergehende Stilllegung, konfiszierende Sicherstellung von Ausschankmitteln sowie Einleitung einer Überprüfung durch die Abteilung für substanzielle Ordnungswidrigkeiten (AsO). Darüber hinaus kann ein Eintrag im überregionalen Register für verwaltungspflichtige Unstetigkeit (RvuU) erfolgen, der zu langfristigen Einschränkungen bei künftigen Anträgen im gesamten Einflussbereich des Moonglower Rates führen kann.

Bitte beachten Sie, dass der Rat derzeit unter der kommissarischen Verwaltung von Junker Hagrobald von Erlengrund steht, der im Auftrag Ihrer Erlaucht, Gräfin Cornelia von Schwarztann, mit der ordnungsgemäßen Aufsicht und Durchsetzung der geltenden Verordnungen betraut ist. Etwaige Einwände gegen das vorliegende Schreiben sind daher unmittelbar an dessen Kanzlei zu richten.“
Darunter: ein zweites Siegel, golden geprägt, mit der Aufschrift:„Verantwortung durch Ordnung – Ordnung durch Überwachung – Überwachung durch Vertrauen“

Ich sah vom Schreiben auf. Der Mann hatte sich bereits umgedreht.

„Verzeihen Sie, wenn ich es so direkt formuliere“, sagte er mit gespielter Milde, „doch der rechtliche Rahmen Ihres Hauses scheint – sagen wir – interpretationsbedürftig, Lady....?“

„Mein Name ist Bareti“, erwiderte ich ruhig, den Blick auf das Siegel gerichtet. „Ich betreibe keine Einrichtung – ich biete einen Ort. Für Reisende, für Geschichten, für Ruhe. Wenn das rechtlich fragwürdig ist, dann frage ich mich, was genau man schützen will.“

Er verneigte sich leicht. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag. Vielleicht sehen wir uns wieder – wenn Sie... Ordnung geschaffen haben.“ Er zögerte kurz, dann fügte er mit sachlicher Freundlichkeit hinzu: „Ich werde zu Protokoll geben, dass Sie bei der Begehung vor Ort zur vollsten Zufriedenheit des Beauftragten kooperiert haben.“

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Ich saß lange am Tresen, nachdem er gegangen war. Der Brief lag neben meinem Becher wie ein abgelehntes Urteil. Ich hätte lachen können, wenn mir nicht zumute gewesen wäre, als säße mir ein unsichtbarer Richter im Nacken.

„Du siehst aus, als hättest du in einen Behördenschrank gebissen“, sagte Thorian, der gerade mit einem neuen Holzrahmen für das Küchenfenster hereinkam.

„Ich glaube, ich wurde für illegal erklärt“, antwortete ich trocken.

Er las das Schreiben, runzelte die Stirn und schnaubte leise. „Wenn ich für jedes Brett, das ich je ohne Genehmigung verbaut hab, ein Verfahren bekommen hätte, wär ich heute vermutlich Stammgast vor dem Ordnungsgericht – oder lebenslänglich in einem der Kellerarchive eingesperrt, um Formulare zu ordnen.“

Ich lächelte schief. „Ich habe nie um Erlaubnis gebeten – nicht aus Trotz, sondern weil ich nie daran gedacht habe. Ich hab die Taverne ja nicht gegründet. Ich habe sie gefunden. Ein bisschen abgestoßen, vergessen vielleicht. Und dann habe ich sie – mit deiner Hilfe – wieder ein wenig aufgehübscht. Und irgendwann... kamen Gäste. Erst einer, dann zwei. Und plötzlich war ich Wirtin. Ich wollte nie ein Schild aufstellen, ich habe nur die Tür nicht abgeschlossen. Der Rest... ergab sich.“

Thorian sah mich an, dann schnaubte er erneut – diesmal amüsiert. „Du solltest deinen Namen außen mit Kreide dranschreiben. 'Bareti – Wirtin ohne Lizenz, aber mit Herz'.“

Ich musste lachen, leise, aber ehrlich. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte es sich nicht wie Widerstand an – sondern wie Zugehörigkeit.

„Vielleicht ist das jetzt dein Fehler“, meinte er. „Du hast all das aufgebaut, ohne jemanden zu fragen – und das war richtig so. Aber jetzt, wo sie mit ihrem Papier kommen, ziehst du dich zurück, statt ihnen das Glas in die Hand zu drücken und zu sagen: 'Willkommen – aber das hier bleibt, wie es ist.'

Ich sah Thorian lange an. Dann nickte ich langsam. Er hatte recht. Ich hatte es nicht geplant – aber jetzt war es da. Und ich musste mich entscheiden, ob ich in Deckung ging – oder mich gerade machte.

Ich nahm das Schreiben noch einmal zur Hand. Diesmal las ich es nicht mit Zorn oder Sorge, sondern mit einem fast wissenschaftlichen Blick. Ich wollte wissen, wie sie dachten. Was sie wollten. Und wie ich zwischen den Zeilen bestehen konnte.

Als ich beim letzten Absatz ankam, blieb mein Blick an einem Namen hängen.

Junker Hagrobald von Erlengrund.

Ich kannte ihn. Nicht gut. Nicht vertraut. Es möchte Zufall sein – ja. Aber es wäre auch denkbar, dass mehr dahintersteckte. Immerhin war das Schreiben nicht an mich gerichtet, sondern an eine 'verantwortliche Person'. Und doch hatte es seinen Weg genau in meine Hände gefunden.

Damals war er noch ein frischer Adeptus – ehrgeizig, höflich, mit tadelloser Handschrift und dem unausgesprochenen Ziel, einmal selbst Einfluss auszuüben. Ich war zu jener Zeit kurz vor meinem Aufstieg – jung, aber nicht naiv, und gewillt, die Welt zu verändern, nicht bloß zu ordnen.

Ich rief Nicoletta wieder nach vorn – ich würde mich erst um anderes kümmern müssen. Mit meinem Notizbuch, Federkiel und Tinte, ein paar Bögen Papier und einem Glas Most setzte ich mich an den großen Tisch beim Feuer.

Zunächst verfasste ich einen kurzen Brief an Lirael. Sie würde für mich ein paar Informationen besorgen müssen – über meinen alten Bekannten Hagrobald.

Dann machte ich mir Notizen zu den Dingen, die ich wohl brauchen würde: Hinweise auf Pachtgrenzen, alte Tavernenprivilegien, vielleicht sogar das längst vergessene Gesetz über freie Herbergen entlang der alten Handelsstraßen, das einst von einem halbvergessenen Zirkel ratifiziert worden war.

Doch ich beließ es nicht dabei. Ich schlug eine andere Seite im Notizbuch auf und begann, Pläne zu skizzieren, Fragen zu ordnen, Begriffe zu prüfen. Welche Rechte könnten hier einst gegolten haben? Welche Freiheiten waren dokumentiert – oder absichtlich nie niedergeschrieben worden? Ich dachte an alte Karten, an vergessene Erlasse, an Geschichten von fahrenden Schreibern und mündlichen Bündnissen.

Sollte sich meine erste Idee als Sackgasse erweisen, wollte ich nicht ohne eine Alternative dastehen.

Ich kam in dieser Nacht erst spät zur Ruhe, doch ich sah der ganzen Angelegenheit schließlich deutlich gelassener entgegen als zu jenem Moment, als der Beauftragte des Rates die Taverne verlassen hatte.
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