
Der Turm war still. Keine Schritte, keine Stimmen, nur das gleichmäßige Knacken des Holzes im Dachgebälk, wenn der Wind daran zerrte, als wolle er hinein.
Shezar saß aufrecht an seinem Schreibtisch, die Finger ineinander verschränkt, den Blick nicht auf ein Buch, sondern auf ein Glas gerichtet. Es stand genau in der Mitte der Arbeitsfläche. Darin trieben zwei Augen. Blass. Trüb nur an den Rändern. Er hatte sie einem Plünderer entnommen, der töricht genug gewesen war, sich an Waren des Syndikats zu vergreifen. Die Strafe war effizient, nicht grausam – aber Shezar hatte es sich nicht nehmen lassen, den Kopf vor der Entsorgung zu öffnen und einige ausgewählte Stücke zu entnehmen.
Er studierte Augen gern. Nicht nur aus medizinischem Interesse – sondern, weil sie oft mehr über den Träger verrieten als alles, was der Mund je sprach. Diese hier: feig. Unruhig. Kein Rest von Überzeugung in der Iris. Nur Ängste – und Hoffnungslosigkeit. Die Farbe? Unklar. Irgendwas Zwischen Schlick und Dämmerung.
„Warum“, murmelte Shezar leise, ohne Ironie, „ist die Vielfalt der Iris so groß, wenn doch alle gleich sehen?“ Keine Frage für Bücher. Eher eine für Geduld. Und Gelegenheit.
Sein Blick wanderte über den Schreibtisch – zu einem einzelnen Pergament. Kein Auftrag. Kein Befehl. Nur ein Gedanke in Worten geschrieben.
Die Drow.
Eine, nicht viele. Eine weibliche Drow. Häuserlos, handwerklich begabt. Für eine Elfe scheinbar noch recht Jung und von ihresgleichen wohl noch nicht entdeckt. Schutzlos. Ein Zustand, der in dieser Welt gefährlich sein könnte.
Das Syndikat könnte sie aufnehmen. Nicht öffentlich. Nicht als Aushängeschild. Aber als Knotenpunkt. Als künftige Verbindung. Als Investition in die Zukunft.
Shezar lehnte sich zurück, ließ den Blick zur Flamme der Lampe schweifen, die leise flackerte. Was sprach dagegen?
Sie ist eine Drow. Und damit für viele ein Feindbild. Dunkel, fremd, gefährlich. Wer den Drow zu nahe kommt, überlebt oft nicht. Und wer sie schützt, muss sie im Zweifel auch rechtfertigen und kann damit schnell zur Zielscheibe werden. Zudem: Sollte sie eines Tages von einem ihresgleichen aufgenommen werden – trägt sie, was sie weiß, mit sich. Das Wissen um Strukturen und Namen. Ein Risiko für das Syndiakt.
Aber: Was spräche dafür?
Sie ist unbelastet. Ohne Haus. Ein leeres Pergament – bereit, mit Loyalität beschrieben zu werden. Wer sie schützt, setzt den Anker. Mit ihr ließe sich vielleicht eine Tür öffnen, die für Menschen sonst verschlossen bleibt: Ein Zugang zur Drow-Gesellschaft, zu ihren Märkten, ihrer Macht, ihrem Wissen. Ein möglicher Pakt?. Nicht aus Freundschaft – aber gestützt auf gemeinsame Interessen. Wenn man ihr jetzt Rückhalt gibt, kann man ihn vielleicht später einfordern. Und wenn sie eines Tages aufsteigt, wird sie sich vielleicht erinnern, wer sie als Erste nicht gefürchtet, sondern gefördert hat.
Der Schutz durch das Syndikat sind keine Almosen – es ist ein Kalkül. Gewährt wird, was dem Ziel dient.
Shezar richtete sich wieder auf. Er sah erneut auf das Glas. Die Augen trieben noch immer. Tot. Unbrauchbar, aber lehrreich.
Die Drow sucht kein Mitleid – sie sucht Möglichkeiten. Gibt man ihr Schutz, wird sie vielleicht später zuhören. Vielleicht wird sie sich später erinnern, wer zuerst die Hand gereicht hat.
Er hatte eine Entscheidung getroffen. Keine laute, keine hastige – sondern eine, wie sie im Innern reift, wenn die Argumente längst abgewogen sind. Er stand auf, löschte das Licht, öffnete die Tür seines Turms und trat hinaus.
Die Nacht nahm ihn still auf – ohne Fragen, aber möglicherweise mit Konsequenz.