Sie überprüfte einen Schmelztiegel, der über einer bläulich flackernden Flamme ruhte. Der metallene Geruch von Magietiegeln und geschmolzenem Obsidian lag in der Luft. Ihre Hände arbeiteten automatisch, doch ihr Geist war anderswo. Immer war er das in letzter Zeit.
Ein leiser Luftzug. Ein Schatten, der nicht zu den bekannten gehörte.
Sie fuhr herum. Und erstarrte.
Ein Wesen aus einer anderen Welt stand im Eingangsgewölbe. Groß. Massiv. Von einer Präsenz, die uralt wirkte. Schwingen wie aus poliertem Stein spannten sich hinter einem langen, gemeißelten Leib. Die Augen leuchteten schwach, bernsteinfarben. Eine Kreatur, wie sie Lyr’sa noch nie gesehen hatte.
„Du bist... du...?“ brachte sie hervor, die Finger bereits auf dem Griff ihres Dolches.
Das Wesen hob beide Hände, langsam, beschwichtigend. „Ich bin Dre’Taurel. Diener der Ilharess.“
Der Gargoyle. Natürlich. Die Ilharess hatte ihn vor einiger Zeit als Geschenk erhalten. Ein exotisches, hatte Alniira betont. Mit jenem überlegenen Funkeln in den Augen, das Lyr’sa jedes Mal das Gefühl gab, noch kleiner zu sein.
„Ich wollte dir nicht Angst machen“, sagte Dre’Taurel mit überraschend weicher Stimme. „Ich bin hier, um mich zurechtzufinden. Und du bist... die Erste, die ich treffe.“
Lyr’sa wich einen halben Schritt zurück. „Natürlich. Ich bin immer die Erste. Die mit dem Besen, dem Tiegel oder dem Zettel in der Hand. Die, die zu springen hat, wenn jemand mit den Fingern schnalzt.“
Er musterte sie schweigend. Dann trat er vorsichtig näher, sein massiger Leib erstaunlich behutsam zwischen die ziselierten Apparaturen manövrierend.
„Du fürchtest mich.“
„Du bist... riesig. Und aus Stein.“
„Ich bin auch freundlich. Man sagt, ich sei ein guter Zuhörer.“
Sie blinzelte. Zum ersten Mal trat so etwas wie Verwirrung in ihre Züge. „Du bist anders, als ich erwartet habe.“
Er neigte leicht den Kopf. „Du auch.“
Lyr’sa senkte den Blick. „Ich bin nichts Besonderes. Nur der Hund der Ilharess. Jeder hier hat seinen Platz. Ich... bin einfach nur da.“
„Und doch bist du es, die dieses Labor am Laufen hält. Die das Erz zum Schmelzen bringt.“
„Weil ich muss. Nicht weil ich gut bin.“
„Müssen tun viele. Aber nicht alle bleiben. Du schon.“
Ein kurzer Moment entstand – schwer, und gleichzeitig seltsam zart. Lyr’sa sah Dre’Taurel an, wirklich an, zum ersten Mal. Etwas in ihr regte sich. Ein Schatten von Stolz? Oder nur der Schimmer eines Traumes, den sie längst begraben hatte?
„Du bist seltsam“, sagte sie leise.
„Und du zu hart zu dir selbst.“
Ein Lächeln formte sich auf ihren Lippen, ganz flüchtig. Doch da – ein kaltes Zischen. Worte, wie Schneideisen auf glatter Haut.
„Was für ein rührseliges Bild.“
Alniira. Im Torbogen, die Arme verschränkt, die Stimme triefend vor Spott.
„Die arme kleine Lyr’sa und ihr steinerner Tröster.“
Dre’Taurel wandte sich nicht ab, doch seine Körperhaltung veränderte sich. Wachsam. Abwehrbereit.
Lyr’sa trat instinktiv einen Schritt zurück, als Alniira näherkam.
„Soll ich euch beide allein lassen? Oder bist du schon dabei, dich aus dem Matsch zu ziehen, Lyr’sa? Hat dir jemand Mut zugesprochen?“ Ihre Stimme war süß. Giftig süß.
„Ich... ich habe nur gesprochen.“
„Mit einem Tier“, bemerkte Alniira. „Wie passend.“
Dre’Taurel richtete sich auf. „Ich mag viele Dinge nicht verstehen, Drow. Aber Herablassung erkenne ich.“
„Ach, wie rührend. Der Gargoyle mit Rückgrat. Dann bist du ja genau die richtige Gesellschaft für unsere Lyr’sa.“
Lyr’sa schwieg. Die eben noch gefühlte Wärme war fort. Ihre Gedanken rasten, ihre Finger zuckten. Wieder hatte sie sich zu viel erlaubt.
„Lauf, Tier. Ich muss mit dem Hund sprechen“, zischte Alniira.
Dre’Taurel zögerte, doch Lyr’sa gab ihm einen Blick. Einen winzigen, bittenden. Er ging.
Alniira trat an sie heran. Kein Spott mehr in der Stimme. Stattdessen: Fast Zärtlichkeit.
„Ich weiß, ich war hart.“
Lyr’sa sagte nichts.
„Aber ich spiele eine Rolle, verstehst du? Wir beide tun das. Du bist der Prügelknabe, ich die Meisterin der Shmiede. Doch darunter...“ Ein langer Moment. Dann: „Ich mag dich.“
Lyr’sas Blick flog zu ihr. Ungläubig.
„Lüg mich nicht an.“
„Tu ich nicht. Ich will dir etwas zeigen.“
Sie zog etwas unter ihrem Umhang hervor. Eine Harfe. Klein, aber kunstvoll gefertigt. Feine Maserung durchzog das helle Holz. Ein Instrument aus der Oberwelt.
„Komm mit. An die Oberfläche. Dort reden wir zu zweit, fernab all der Ohren“
Lyr’sa wollte weglaufen. Wollte nein sagen. Wollte sich verstecken. Doch sie nickte.
Ryld, der Reisemagier, brachte sie hin. Wortlos.
Sie standen in einem Wald. Alniira sprach von Träumen, von Wandel, von Wahrheit. Reichte ihr eine Harfe. Lyr’sa versuchte, sie zu stimmen.
Ein Ton. Falsch. Noch einer. Schiefer.
Sie verzog das Gesicht. Tränen stiegen in ihre Augen. „Ich kann das nicht.“
„Doch. Du musst es nur zulassen.“
Lyr’sa wollte die Harfe werfen. Auf den Boden. Gegen Alniira.
Doch sie hielt inne.
„Warum?“, flüsterte sie. „Warum jetzt so freundlich?“
Alniira trat näher. Legte die Arme um sie. Drückte sie.
Lyr’sa fror.
Kein Schmerz kam. Kein Spott. Nur Wärme. Doch sie glaubte ihr nicht. Konnte nicht glauben.
Ein Spiel. Eine Falle.
"Geh in den Wald, bei Yew. Südlich der Stadt. Dort ist eine Lichtung. Dort ist der Luft klar, der Mond hell und dort wirst du Wahrheit finden."
Dann war Alniira fort.
Und Lyr’sa – allein.
Sie kehrte zurück nach Elashinn. Das Labor lag im Dunkel. Ihr Herz auch.
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