Besen, Bier & Barrieren – oder: Wie ich aus Versehen eine Taverne gründete

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Bareti
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Pläne, Pfeifenrauch & ein Platz zum Bleiben – oder: Wie ich einen Hof teilte, bevor ich ihn verstand

Beitrag von Bareti »

Episode IX
„Pläne, Pfeifenrauch & ein Platz zum Bleiben – oder: Wie ich einen Hof teilte, bevor ich ihn verstand“
Erzählt von Bareti, Wirtin auf leisen Pfaden, aber mit offenen Türen

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Der Morgen war kühl, feucht, und trug den Geschmack von Erde in sich. Ich verließ die Taverne, noch ehe die Sonne die Nebel aus den Bäumen vertrieben hatte, und machte mich auf den Weg zum Hain. Der Pfad führte mich zwischen alten Eichen hindurch, deren moosbedeckte Stämme wie stumme Wächter wirkten. Tautropfen glitzerten auf Farnen, und an manchen Stellen kräuselte sich der Nebel so dicht, dass selbst die Vogelstimmen gedämpft klangen. In der Ferne schlug ein Specht gegen morsches Holz – ein gleichmäßiger Klang inmitten der Stille.

Ich schritt langsam, ließ meine Finger über das raue Holz eines umgestürzten Stammes gleiten, roch den Duft von Pilzen und feuchtem Laub. Der Hain war nie einfach nur ein Ort gewesen – er war Erinnerung, Mahnung, manchmal Trost. Heute war er alles zugleich.

Ich verharrte einen Moment und schloss die Augen. Gedanken wirbelten wie Laub im Wind. So vieles war ungesagt, unausgesprochen – in mir und um mich. Doch es war keine Flucht – nicht diesmal. Nur der Versuch, Klarheit zu finden. Und vielleicht ein neues Spiel zu eröffnen.

Lirael erschien wenige Augenblicke, nachdem ich den Steinkreis betreten hatte. An ihrem linken Handgelenk glomm schwach ein türkisfarbener Kristall – eingelassen in ein schmales Armband aus Silberdraht. Ich hatte sie zuvor darüber gerufen, über unsere abgestimmten Kommunikationskristalle, ein stummes Signal, das wir teilten. Ihr Blick war offen, neugierig, wie jemand, der mehr Fragen als Antworten mitbringt. Sie trat langsam über das feuchte Gras, sah sich kurz um, als wolle sie spüren, ob etwas in der Luft lag, das nicht ausgesprochen war.

Ich habe mir gedacht, dass du nicht einfach so rufst.“

Ich nickte, ließ mir einen Moment, ehe ich sprach. Dann reichte ich ihr ein kleines, gefaltetes Pergament – ohne Siegel, aber mit Bedacht formuliert.

„Ich brauche Informationen. Über Junker Hagrobald von Erlengrund. Seine Bewegungen, seine Verbündeten, seine Wege. Nichts Offenes. Nur ein Bild.“

Lirael hob eine Augenbraue, nahm das Pergament entgegen und verstaute es wortlos. Dann sah sie mich lange an. Ihr Blick war nicht tadelnd, sondern wachsam – wie der einer Spürnase, die den ersten Faden einer Spur aufnimmt.

„Also bist du es, die nun Fragen stellt – mit mehr Nachdruck als sonst.“

Ich antwortete nicht. Der Hain war still, und die Worte zu laut. Der Wind strich durch die Zweige über uns, als wollten sie unsere Gedanken forttragen. In der Ferne erklang das Rufen eines Eichelhähers – laut, fast störend. Doch auch das gehörte dazu: Störung, Bewegung, Wandel.

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Als ich zurückkehrte, durchquerte ich den alten verwilderten Garten, der wie ein stiller Zwischenraum zwischen Hain und Taverne lag. Der Pfad war kaum mehr als eine Ahnung im Gras, durchzogen von Brennnesseln und Wildkräutern, die sich unbeirrt ihren Platz zurückgeholt hatten. Die Ranken eines Brombeerstrauchs hatten sich in einen rostigen Eimer geschlungen, der wie vergessen am Wegesrand stand.

Kaum zeichnete sich die Silhouette der Taverne zwischen den Bäumen ab, bemerkte ich ihn: ein Junge, vielleicht vierzehn Sommer alt, mit dunklem Haar und einem eifrigen, fast verzweifelten Ausdruck. Er kniete im Hof, umgeben von Holzstücken, einem Beutel Werkzeug und einem grobem Leinen neben sich. Ein windschiefer Hocker stand neben ihm – selbst gebaut, wie mir auffiel. Noch roh, aber funktional. Ein Stück Brett diente ihm als Messlatte, grob eingeschnittene Maße entlang der Kante.

Er fuhr erschrocken hoch, als ich näherkam.

„Verzeiht, Lady!“, rief er hastig, noch bevor ich etwas sagen konnte. „Ich… ich dachte, das hier wäre verlassen. Ich hab niemandem schaden wollen.“

Er stand auf, klopfte sich verlegen den Staub von der Hose und fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase, an der noch ein feiner Span klebte. Seine Stimme zitterte, aber nicht nur vor Überraschung – da war Müdigkeit, vielleicht auch Hunger. „Ich wollte nur… was bauen. Nur ausprobieren. Ich… ich hab nirgends einen Platz gefunden, wo ich nicht gleich verjagt wurde.“

Er sah sich um, als würde er jetzt den besten Fluchtweg suchen, doch seine Hände blieben an der kleinen Werkbank, die er aus zwei Holzbalken improvisiert hatte. „Es war einfach so still hier. Als ob keiner mehr kommt. Und ich dachte… wenn ich leise bin… dann störe ich vielleicht niemanden.“

Seine Stimme war brüchig, die Hände schmutzig vom Holzstaub. Die Augen suchten meinen Blick, ohne ihn wirklich zu halten. Irgendetwas an seiner Haltung erinnerte mich an jemanden, den ich längst vergessen glaubte – oder vielleicht an mich selbst, vor all den Jahren. Nicht mehr Kind, noch nicht wirklich jemand.

Ich schwieg einen Moment, dann atmete ich tief durch. Meine Finger glitten über die rauen Fasern des alten Torpfostens neben mir, an dem seit Jahren kein Tor mehr hing. Ein Ort wie dieser zieht die an, die schweigend um eine zweite Chance bitten. Und vielleicht braucht es mehr Mut, sich irgendwo niederzulassen, als weiterzuziehen. Ich sah den Jungen an und spürte, dass dies kein Zufall war. Vielleicht hatte der Ort ihn gerufen – oder das, was aus ihm werden sollte.

Wir redeten eine Weile. Seine Eltern hatten ihn einem Schreiner anvertraut, bei einem Schreiner, der weit draußen lebte, hinter einem Fluss und einem Hügel, wie der Junge es beschrieb. Er hatte dort nicht nur gearbeitet, sondern auch gewohnt – in einer kleinen Kammer über der Werkstatt, zusammen mit dem Geruch von Harz und Holzstaub. Dann, eines Tages, war sein Meister nicht mehr zurückgekehrt. Kein Brief, keine Nachricht, kein Abschied.

Seitdem zog der Junge umher, schlief unter Vordächern, aß, was sich finden ließ, und suchte nach einem Ort, um zu üben, zu lernen, einfach… zu bleiben. Er glaubte, niemandem zur Last zu fallen. Die Werkzeuge, die er trug, waren gut gepflegt – wahrscheinlich sein einziger Besitz von Wert.

Ich erkundigte mich nach seinem Namen – doch er wich aus. „Ist nicht so wichtig“, murmelte er. Vielleicht war es Scham, vielleicht Vorsicht. Vielleicht wollte er einfach nicht schon wieder irgendwo nur einen Namen hinterlassen.

Als er schließlich aufstand, um sich zu verabschieden, hielt ich ihn zurück. Ich deutete zum alten Fasslager, dessen Tür halb aus den Angeln hing, daneben eine zerbrochene Kiste und ein rostiger Rechen.

„Das dort wird gerade nicht gebraucht. Wenn du es dir herrichtest, kannst du es Werkstatt nennen.“

Seine Augen wurden groß. Dann nickte er, wortlos, aber mit einem Ausdruck, der mehr sagte als alles, was er bisher geäußert hatte. Noch am selben Abend hörte ich Hämmern. Kein Rhythmus, nur der Klang von Hoffnung in Arbeit verwandelt.

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Später, als die Taverne in warmes Licht getaucht war und das Stimmengewirr wie eine vertraute Decke über den Raum gelegt wurde, stand ich am Tresen neben Nicoletta. Es roch nach gebratenen Zwiebeln, frischem Brot und einem Hauch von süßem Teig, den jemand zu nah am Feuer vergessen hatte. Der Herd knisterte leise, und auf den Tischen glänzten vereinzelt Tropfen von verschüttetem Met.

Nicoletta hatte gerade ein Tablett geleert und balancierte mit der freien Hand zwei Krüge. Ich erzählte ihr von dem Jungen, seinem Plan, seiner Suche. Von der Müdigkeit in seinen Augen und dem feinen Span auf seiner Nase. Sie hörte zu, ließ ihre Arbeit für einen Moment ruhen, stützte sich auf den Tresen und schüttelte dann schmunzelnd den Kopf.

„Wir sammeln sie wirklich, was?“

Ich zuckte leicht mit den Schultern, lächelte. „Vielleicht. Oder wir geben nur zurück, was man uns einst gewährte.“ Ich musste nicht fragen, was sie meinte – war sie selbst doch eine dieser gesammelten Seelen.

Sie lachte leise, stellte einen Krug auf den Tresen und begann, die Gläser zu sortieren. Ich blieb noch einen Moment stehen, hörte dem Stimmengewirr zu. Geschichten, Lachen, das Klirren von Besteck – es war kein großer Ort, aber er lebte. Und manchmal genügt das.

Mein Blick schweifte durch den Schankraum und blieb an einem Gast in der hintersten Ecke hängen. Ein Mann, kaum erkennbar im Halbschatten. Der Mantel wirkte vertraut, die Haltung ebenso. Er hatte sich kaum bewegt, trank nichts, redete mit niemandem – rauchte nur seine Pfeife mit einer Ruhe, die beinahe aufgesetzt wirkte. Doch etwas an ihm flackerte an der Schwelle meiner Erinnerung.

Ein Bild schob sich in mein Bewusstsein – verschwommen, flüchtig. Eine Stimme aus der Vergangenheit, ein Abend voller Kerzenlicht und Diskussionen. Der Klang eines Namens, nicht laut, aber eindringlich. Ein Kreis aus Stimmen, eine Entscheidung, ein Versprechen?

Dann war es wieder fort, wie ein Traum, den man fast behalten hätte. Ich wandte mich ab – doch der Gedanke blieb zurück, wie ein Faden, der sich in der Weberei meines Tages verfangen hatte.

Der Rauch seiner Pfeife stieg in kleinen, geduldigen Spiralen zur Decke. Er war nicht beißend, nicht süß – eher erdig, mit einem Hauch von trockenem Moos und etwas Bitterem, das ich nicht benennen konnte. Ein Teil von mir wollte sich abwenden, doch ich konnte nicht. Nicht ganz. So wie man bei einer Melodie verweilt, deren Ursprung man nicht kennt, aber die trotzdem etwas in einem zum Schwingen bringt.

Ich beobachtete, wie er einmal langsam zog, dann mit knapper Geste den Pfeifenkopf leerte und mit langsamer Sorgfalt frischen Tabak nachstopfte. Kein überflüssiger Handgriff, kein Zögern – nur ruhige, eingeübte Bewegungen. Die Art, wie er das Feuer entzündete – mit Bedacht, fast andächtig –, erinnerte mich an jemanden, dessen Anwesenheit einst selbstverständlich gewesen war. An jemanden, der selten sprach – und wenn, dann nur, wenn es wirklich etwas zu sagen gab.

Nicoletta bemerkte meinen Blick und folgte ihm. Doch sie sagte nichts. Vielleicht, weil sie wusste, dass manche Fragen nicht im Jetzt gestellt werden. Vielleicht, weil auch sie etwas spürte.

Am Ende jenes Tages vermerkte ich nur einen Satz in meinem Notizbuch:
„Manche Gäste tragen mehr mit sich, als sie zeigen.“
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Edelsteine, Echos & eine Entscheidung – oder: Wie ich im Vergangenen das Gegenwärtige entdeckte

Beitrag von Bareti »

Episode X
„Edelsteine, Echos & eine Entscheidung – oder: Wie ich im Vergangenen das Gegenwärtige entdeckte“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit klarem Blick, aber flackerndem Innern

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Es war spät am Nachmittag, und die Taverne roch nach Brotkruste, Most und frisch geschnittenem Holz. Ulaf hockte wie so oft in der Nähe des Kamins und schliff etwas Metallisches, das er nicht benannte. Der Klang des Wetzsteins vermischte sich mit dem Murmeln der Gäste – ein gleichmäßiges Hintergrundrauschen aus Stimmen, Besteck und gelegentlichem Glucksen aus Fässern.

Die Tür öffnete sich mit einem gepressten Knarren. Der Zwerg, der eintrat, war nicht laut, aber präsent. Sein Bart war dicht und von grauen Strähnen durchzogen, seine Statur kompakt, sein Gang schwer, aber zielgerichtet. Der grobe Umhang hing ihm tief über die Schultern, am Gürtel baumelte ein Steinhauerzeichen, das schon bessere Tage gesehen hatte. Er stapfte direkt auf den Kamin zu, als gehöre ihm der Platz – oder als hätte er ihn selbst einst selbst gemauert.

Ulaf hob den Blick – und lachte auf, ehrlich überrascht.

„Rhowin, du alter Sturmbart! Ich dachte, du wärst längst ein Stein geworden!“

Der andere grinste, breit, verschmitzt. Seine Augen blitzten, als hätte er ein paar Geheimnisse zu viel gesehen. Er klopfte Ulaf kräftig auf die Schulter, dann stellte er eine kleine, verschlossene Holzkiste auf den Tisch. Der Deckel war mit Messing beschlagen und roch nach Tannenharz und Reisen. Die Kiste blieb erst einmal zwischen den beiden liegen.

„Ich war im Süden, unterhalb von Minoc“, begann Rhowin, während er sich auf einen Schemel setzte, der unter seinem Gewicht leise knarzte. „Ein alter Handwerkszirkel da unten – Steinformer, Runenfräser, ganz eigene Schule. Die reden wenig, aber bauen dir Erinnerungen in Granit, wenn du lange genug wartest.“

Ulaf schnaubte. „Runenfräser reden wenig, weil sie zu viel Staub fressen.“

Rhowin lachte heiser. „Vielleicht. Aber einer von ihnen meinte, so ein Ding gehört nicht einfach jedem. Musste ein paar Geschichten erzählen, zwei Nächte lang mit dem Ältesten trinken und ein Lied singen, das ich seit vierzig Jahren nicht mehr kannte. Am Ende hat er mir das hier anvertraut – mit dem Blick, als würde er's später zurückfordern.“

Er tippte auf die Kiste, öffnete sie aber noch nicht. Stattdessen lehnte er sich zurück und ließ die Gäste zusehen – und warten.

Ich stellte ihm ein Bier hin, ohne ein Wort zu sagen. Rhowin nickte mir dankend zu, hob den Krug, nahm einen kräftigen Schluck – und verzog dann leicht das Gesicht. Er betrachtete den Inhalt, hielt ihn gegen das Licht und drehte sich zu Ulaf.

„Sie zapft falsch.“

Ulaf nickte nur, als sei das eine unumstößliche Wahrheit. Er nahm ebenfalls einen Schluck aus seinem eigenen Krug und stellte ihn schweigend zurück auf den Tisch. Rhowin hielt den Krug noch einmal hoch, musterte ihn prüfend und schüttelte leicht den Kopf.

Ich tat so, als hätte ich es nicht gehört – aber ich merkte mir den Satz.

Später, als die meisten Gäste bereits neugierig zu den beiden Zwergen herüberlugten, öffnete er die Kiste. Darin: ein Kristall, faustgroß, fast klar, doch mit einem trüben, schillernden Kern, der sich zu bewegen schien, wenn man nicht direkt hinsah.

„Zeigt Erinnerungen, sagen die in Trinsic. Aber nicht immer deine. Manchmal... nur, was hängen geblieben ist.“

Ein gemurmeltes Raunen ging durch den Raum. Skepsis, Interesse, Unsicherheit – all das lag in der Luft, als der Kristall in der Mitte des Tisches lag. Ein Dutzend Augenpaare richtete sich darauf. Niemand traute sich, ihn zuerst zu berühren. Es war, als läge darin etwas Heiliges oder Gefährliches, je nach Sichtweise.

Nicoletta trat einen Schritt vor, hielt aber inne. Ihr Blick wanderte zu Rhowin, der mit verschränkten Armen am Tisch saß.

„Darf ich?“ fragte sie leise.

Der Zwerg musterte sie einen Moment, dann nickte er knapp. „Nur mit ehrlichem Herzen.“

Schließlich nahm Nicoletta allen Mut zusammen, schob ihre Ärmel hoch – als ginge sie in einen Kampf – und hob den Kristall vorsichtig an. Für einen Moment blieb sie still, dann lächelte sie. Leise, wehmütig.

„Ich... rieche Zimt. Und eine Stimme... meine Mutter, glaub ich. Singt ein Lied. Ich... hab das vergessen.“

Sie wischte sich verstohlen mit dem Handrücken über die Wange und reichte den Kristall weiter.

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Der Kristall ging von Hand zu Hand. Manchmal dauerte es, bis etwas zu sehen war. Manchmal kam es sofort: ein flüchtiger Blick, ein Bild, ein Echo. Kein Gast sah dasselbe.

Ein junger Bursche, der nur selten sprach, begann zu lachen – leise, aber echt – als er in den Kristall blickte. „Mein Bruder... wir haben uns gestritten, aber das war... das war unser Boot.“

Zwei ältere Damen, die regelmäßig kamen, aber selten länger als eine Stunde blieben, hielten ihn gemeinsam. Eine nickte sofort, ihre Augen glänzten. Die andere blieb still, dann murmelte: „Ich... weiß nicht, ob das meine Erinnerung ist. Aber sie fühlt sich vertraut an.“

Der mürrische Stammgast Orello sah plötzlich sich selbst, jünger, mit einem Apfelbaum im Hintergrund. „Das war in Yew. Vor... Götter, vor fast dreißig Jahren. Ich hab da... nie wieder dran gedacht.“

Ein Handwerker aus Cove, der nur auf der Durchreise war, meinte mit leiser Stimme, er habe den Geruch von nassem Leinen und heißem Metall gespürt. „Das war die Werkstatt meines Vaters. Ich war da seit zwanzig Jahren nicht.“

Es wurde leiser im Raum. Keine Gespräche mehr. Nur noch das leichte Knacken des Holzes im Kamin.

Ulaf nahm den Stein zuletzt, mit auffälliger Ruhe. Als wäre er sicher, dass nichts passieren würde – oder alles. Er hielt ihn lange, drehte ihn langsam, betrachtete das Licht darin wie ein Handwerker das Muster eines Steins.

„Ich hör jemanden lachen. Glaub... es war ich. Ist lang her.“

Er legte den Stein behutsam zurück in die Mitte und sah niemanden an. Seine Hände ruhten auf den Knien, ruhig, aber fester als sonst.

Dann sahen alle zu mir.

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Ich zögerte. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil alle anderen so klar etwas gesehen hatten – und ich nicht wusste, ob ich bereit war, auch gesehen zu werden. Vielleicht, weil ich mir nicht sicher war, ob ich den Blick von außen auf mich selbst ertrug.

Der Kristall fühlte sich kühl an, fast schwerelos. Und dann – ganz ohne Licht oder Farbe – begann er zu flimmern. Nicht mit Bildern zuerst, sondern mit einem Gefühl. Etwas Altem. Etwas, das ich nicht benennen konnte.

Dann sah ich mich. Von außen. Wie durch das Fenster eines fremden Hauses.

Doch bevor das Bild verblasste, flackerte etwas anderes auf – schwächer, aber eindringlich. Und plötzlich war ich nicht mehr ich. Ich war der Junge.

Zu groß war die Robe, die Ärmel rutschten mir immer ins Tintenfass. Der Schreibtisch war überladen – Bücher, lose Blätter, eine schiefe Sanduhr, die nie still stand. Ich schrieb, radierte, begann neu. Worte wollten nicht gelingen, Gedanken flohen, sobald ich sie greifen wollte.

Dann hörte ich ihre Schritte.

Sie war da. Wie immer: aufrecht, klar, türkis, mit diesem seltsamen Funkeln, das einem das Gefühl gab, nichts sei unmöglich – und alles sei bereits entschieden. Nicht weil sie laut war. Sondern weil sie Raum ließ. Für Zweifel, für Trotz, für Neugier. Für mich. Und selbst wenn ich sie hasste, in dem Moment, wenn sie mir eine Frage stellte, die ich nicht beantworten konnte – ich wusste, sie meinte es ernst. Mit der Magie. Mit dem Lernen. Mit mir.

Ich sah auf. Und sagte zu mir selbst, halb laut, halb trotzig:

„Ich verstehe es nicht – aber wenn sie es sagt, dann muss es einen Sinn haben. Ich... will ihn verstehen.“

Und es war wahr. Ich glaubte ihr – manchmal widerwillig, manchmal glühend. Nicht wegen der Worte. Sondern weil sie blieb. Auch wenn ich wütend war. Auch wenn ich zweifelte.

Dann veränderte sich der Blickwinkel. Ich sah wieder aus ihren Augen. Sah mich selbst, damals, wie ich aufblickte, diesen einen Moment lang voller Hoffnung, Unsicherheit und Hunger nach Anerkennung.

Es war nur ein Atemzug lang – aber er brannte sich ein. Kein großes Wort fiel, kein Eid, kein Abschied. Nur dieser Blick, dieser eine Moment, in dem ich – durch seine Augen – mich selbst erkannte, wie er mich gesehen hatte: nicht als Lehrmeisterin, sondern als Richtung. Als jemand, der nie aufgab. Und plötzlich wusste ich, dass ich ihn nicht ganz verloren hatte. Nicht, solange dieser Blick irgendwo in der Welt weiter existierte.

Der Kristall wurde stumpf. Die Wärme wich aus meinen Fingern.

Ich atmete flach, als hätte ich die ganze Zeit die Luft angehalten. Für einen Moment blieb ich still, dann sah ich zu Rhowin. Er saß da wie zu Beginn – schwer, ruhig, wachsam. Unsere Blicke trafen sich, und ich nickte ihm zu.

„Danke“, sagte ich. Leise, aber deutlich. Nicht nur für den Stein.

Er hob leicht den Krug – leer inzwischen – und blinzelte langsam, als verstünde er mehr, als ich ausgesprochen hatte.

Ich trat zurück, ließ den Blick noch einmal über die Taverne schweifen. Die Gäste hatten sich wieder ihren Gesprächen zugewandt, doch die Stimmen waren leiser, gedämpfter. Etwas hatte sich verschoben. Vielleicht war es nur in mir – vielleicht nicht.

Ich ging nach hinten, vorbei an Nicoletta, die mir einen prüfenden Blick zuwarf, aber nichts sagte. Durch die Küchentür, hin zu der kleinen Kammer, die ich manchmal scherzhaft „mein Büro“ nannte. Ich setzte mich auf den Hocker neben dem Regal, zog mein Notizbuch zu mir und schlug es auf.
„Erinnerung ist nicht Besitz. Aber manchmal ist sie ein Zuhause. Ein Ort ohne Mauern, aber mit Türen, die nur von innen aufgehen.“
Ich ließ den Stift sinken, stützte das Kinn auf die Hand und lauschte dem entfernten Murmeln des Gastraums.

Heute brauchte ich keine Antwort. Nur das Bewusstsein, dass manche Dinge bleiben. Auch wenn man sie loslässt.
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Zwischenspiel III – Der vierte Versuch und fast ein Erfolg

Beitrag von Bareti »

„Aus Fehlern geboren, mit Wissen gewürzt – und beinahe schon würdig“

Planung und Vorbereitung

Beim vierten Versuch wollte ich das, was ich in den bisherigen Anläufen gelernt hatte, bewusster und kontrollierter anwenden. Kein übertriebener Ehrgeiz mehr, keine überbordenden Experimente – stattdessen ruhige Hand, strukturierte Planung und ein Gespür für das, was funktioniert hatte. Ich erinnerte mich: Der gezielte Wärmereiz aus dem zweiten Versuch hatte der Gärung gutgetan. Die Duftzauber aus dem dritten hatten zwar gewirkt, aber dabei den Geschmack verfälscht. Jetzt sollte es um Ausgewogenheit gehen – nicht um Effekte.

Die Äpfel stammten diesmal von einer alten Obstplantage nahe eines südlichen Klosters bei Occlo. Sie wurde von schweigsamen Mönchen gepflegt, deren Wissen über Gärprozesse nicht aufgeschrieben war, sondern in Händen und Blicken lag. Ihr Most war schlicht, aber in sich stimmig – er wirkte ehrlich. Ich hörte ihnen zu, beobachtete ihre Methoden und entschied mich dann bewusst für Sorten, die sie selbst selten nutzten. Solche, die mal süß, mal herb, mal völlig überraschend ausfielen. Vielleicht war es genau das, was ich suchte: kein Produkt der Gleichförmigkeit, sondern ein Getränk mit Charakter und Wandelbarkeit.

Umsetzung und Magieeinsatz

An einem strahlenden Vormittag stand ich im Innenhof hinter der Taverne. In einer Hand hielt ich eine Schale mit dunklen, aromatischen Äpfeln, in der anderen eine Prise getrockneten Lavendels aus meinem eigenen Garten. Ich hatte inzwischen gelernt, dass jeder Zusatz seine Spuren hinterließ – nicht nur im Geschmack, sondern auch im Gefühl. Der vierte Versuch sollte genau so eine Spur tragen.

Ich verzichtete bewusst auf den Kupferkessel. Die metallische Note hatte sich als störend erwiesen. Stattdessen nahm ich einen alten Glasballon vom Dachboden. Das Gärrohr versah ich mit einem subtilen Reinigungszauber – kaum erkennbar, aber effektiv gegen äußere Verunreinigungen. Auch mein überarbeiteter Zauber Lux Pomari kam wieder zum Einsatz. Diese magische Hilfsformel reagierte nicht nur auf Zuckerwerte und Temperatur, sondern zeigte inzwischen auch kleine Gärungsschwankungen an, indem sie die Lichtlinie kräuselte. Ich hatte sie seit dem letzten Versuch verfeinert. Jetzt war sie präziser – und zeigte mir, wann ich eingreifen musste.

Das Ergebnis war spürbar besser. Noch nicht vollkommen, aber auf dem richtigen Weg. Der Most duftete nach Apfelblüten und trug einen leichten Schimmer. Er perlte kaum, aber er sprach an – auf der Zunge, in der Nase, im Kopf. Ich kostete vorsichtig. Und ich musste lächeln.

„Erstes Aufblitzen. Magie dezent und hilfreich. Noch nicht marktreif – aber trinkbar. Die Textur ist angenehmer, die Gärung stabil. Mögliche Verfeinerung durch Doldenblütler prüfen – Holunder? Auch: Kombination mit älterem Most zur Tiefe testen.“


Für mich war das ein Fortschritt. Ich stellte auch diesen Versuch als kleines, beschriftetes Fass zu den anderen – nicht weil ich ihn für vollkommen gelungen hielt, sondern weil er Teil meines Weges war. Und weil der Rest des Mosts, trotz aller verbleibenden Unsicherheiten, bereits gut genug war, um getrunken zu werden – mit Genuss, nicht nur mit Neugier. 

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Der fünfte Versuch – Erinnerung im Geschmack

Den fünften Versuch hatte ich schon begonnen, noch während der vierte ruhte. Ich arbeitete diesmal mit Mischungen verschiedener Apfelsorten. Der Gedanke gefiel mir: Nicht die eine perfekte Frucht sollte den Ton angeben, sondern das Zusammenspiel. Wie ein Chor, bei dem nicht alle Stimmen gleich sind, aber gemeinsam etwas erschaffen, das im Gedächtnis bleibt.

Die Magie hielt ich erneut zurück. Kein Zeitzauber, keine künstliche Süße. Stattdessen etwas anderes: ein Erinnerungszauber. Sehr fein, kaum spürbar, beinahe ein Hauch. Ich erinnerte mich an den magischen Stein, den ein Freund meines zwergischen Helfers Ulaf vor kurzem mitgebracht hatte – ein unscheinbares Stück Mineral, das beim Berühren vergangene Gefühle und Erinnerungen auslöste. Ich hatte ihn nur kurz in der Hand gehalten, doch der Eindruck blieb haften. Was, wenn man so etwas nicht in Stein, sondern in Geschmack bannen konnte?

Leider war der Freund am nächsten Morgen wieder aufgebrochen. Trotz meines höflich geäußerten Interesses hatte er sich nicht dazu durchringen können, mir den Stein für weitere Untersuchungen zu überlassen – sehr zu meinem Leidwesen. Doch zur großen Freude Ulafs hatte er stattdessen ein kleines, versiegeltes Fass Umrazimer Zwergenbier mitgebracht, das die beiden noch gemeinsam öffneten. Der Rest davon wartete nun, kühl und würzig, hinter dem Tresen – für jene seltenen Gäste, die einen ganz besonderen Tropfen verdient hatten.

Ich versuchte es dennoch, ohne die hilfreiche Basis des Steins. Ich band eine Erinnerung an den Most: das Lachen eines Barden, als er zum ersten Mal meine Hausmarke probierte. Nur ein winziger Ausschnitt dieser Szene, ein Echo. Aber vielleicht reichte das schon.

Der gefundene und zu meiner Hausmarke verbesserte Most war inzwischen nahezu aufgebraucht. Eine letzte Karaffe hatte ich versiegelt und zu den anderen Fässern gestellt. Das letzte Glas schenkte ich dem alten Fischer aus der Bucht. Ich dachte nicht einmal darüber nach – es war einfach richtig so.

Als ich den fünften Versuch einige Wochen später probierte, war ich überrascht. Er schmeckte weich, mit klarer Apfelnote und einem Hauch Lavendel. Keine Trübung war mehr zu sehen, keine Schwebstoffe, kein Bodensatz – nur goldene Klarheit im Glas. Aber da war mehr: Im Nachgeschmack lag ein Gefühl, nicht greifbar, aber vertraut. Wie ein warmer Nachmittag, den man vergessen hatte, bis er in einem Moment wieder auftaucht. Wie… die Taverne selbst.

Ich schloss die Augen und lächelte.

„Du bist nicht perfekt“, sagte ich leise. „Aber du bist der Erste, den ich sogar ausschenken mag.“

Am Abend ließ ich den Zwerg kosten. Er schnaubte, trank in einem Zug aus, stellte das Glas wortlos ab und sagte:

„Fast trinkbar. Fehlt Tiefe. Und Wucht.“

Ich lachte laut. Für mich war das das beste Lob bisher.

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Am Abend, nachdem ich den fünften Versuch zufrieden in ein kleines, fein beschriftetes Fass umgefüllt und zu den anderen gestellt hatte – als Zeichen dafür, dass er seinen Platz verdient hatte –, schlug ich mein Notizbuch auf und notierte::
„Fünfter Versuch zeigt klare Linie. Most trägt erstmals Erinnerung, wenn auch nur flüchtig. Lavendel harmonisch, aber instabil in der Tiefe. Ulafs Reaktion spricht für Trinkbarkeit mit Ausbaupotenzial. Nächster Ansatz: aromatische Verstärkung durch Holunder testen. Möglichkeit: Kombination mit gedämpfter Zimtrinde zur Tiefe – aber sparsam. Eventuell eigene Erinnerung stärker verankern, nicht Erinnerung an eine Reaktion. Ziel: Persönlichkeit im Nachhall, nicht nur in der Kopfnote. Eventuell Alkoholgehalt prüfen und bei Bedarf anpassen – Balance nicht nur im Geschmack, sondern auch in der Wirkung.“
Zuletzt geändert von Bareti am 22 Mai 2025, 12:33, insgesamt 1-mal geändert.
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Gedanken, Gäste & ein Glas zu viel – oder: Wie mir ein alter Name neue Türen öffnete

Beitrag von Bareti »

Episode XI
Gedanken, Gäste & ein Glas zu viel – oder: Wie mir ein alter Name neue Türen öffnete“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit ruhiger Hand und einem Blick für das Verborgene

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Es war der Morgen nach einer jener Nächte, in denen der Schlaf kam, aber die Träume ausblieben – und ich konnte nicht sagen, ob das Erleichterung oder eine Warnung war. Der Duft meines letzten Mostversuchs hing noch in der Luft, dieser leicht lavendelduftende Nachhall, der sich in den Holzbalken festsetzte wie Erinnerungen, die man nicht loswird. Versuch Nummer vier war immerhin nicht explodiert. Und Versuch fünf? Der war… gelungen. Durchaus sogar. Nicht exquisit – aber fast vollkommen klar. Nur ein feiner Schimmer blieb, als wolle der Most ein kleines Geheimnis für sich behalten. Nicoletta hatte beim Abfüllen sogar anerkennend die Stirn gerunzelt. Das war bei ihr fast schon Applaus.

Er will den neuen probieren“, sagte sie und stellte zwei Becher auf den Tresen.

Er?“

Der junge Fischer mit dem grün verwaschenen Halstuch. Hat behauptet, er habe die Entstehung mitverfolgt. Wortwörtlich.“

Ich seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Dann soll er trinken. Aber wenn er blind wird, will ich’s schriftlich, dass es an seinen eigenen Entscheidungen lag.“

Ich schenkte ein und beobachtete, wie der Most golden ins Glas floss. Fast vollkommen klar – wie gesagt. Und doch mit diesem feinen, fast unsichtbaren Schimmer. Der Fischer nahm einen Schluck, schloss die Augen – und ein verträumter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Als hätte ihn der Geschmack an etwas erinnert. Etwas, das ich nicht sehen konnte.

Dann öffnete sich die Tür.

Ein Mann trat ein. Nicht hastig, nicht zögerlich. Seine Schritte waren ruhig, sicher – wie jemand, der es gewohnt war, dass Räume auf ihn reagierten. Der lange Mantel, staubig vom Weg, schien dennoch faltenlos. Ich sah ihn sofort. Und erkannte ihn nicht an Kleidung oder Gestalt – sondern an dem, was nicht zu sehen war: das Gewicht seines Schweigens. Den Funken dahinter.

Aetherium… von Finsterrode“, sagte ich. Er sah älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte – müder vielleicht, oder einfach schwerer geworden mit den Jahren, die er trug wie andere ihre Roben.

Er nickte knapp. „Ich hörte von einer Taverne an Moonglows Rand. Ein Ort, wo Geschichten zusammenlaufen. Die Einladung galt eigentlich Barack – aber da er nicht auffindbar war, bin ich gekommen. Ich hatte zwar Euren Namen gesehen – aber ich hätte nicht erwartet, Euch tatsächlich hier zu sehen.“

Ich deutete auf den großen Tisch nahe der Fensterbank. „Vielleicht ist es die Insel, die mich hier hält. Oder der Most. Manche Gäste behaupten, der sei der wahre Grund.“

Er setzte sich. „Ihr seid also eine Wirtin geworden?“

Ich bevorzuge: Hüterin eines Ortes. Der Taverne, um genau zu sein.“ Ich nahm Wasser von der Feuerstelle und goss uns zwei Tassen Tee ein, folgte ihm zum Tisch und setzte mich schließlich ihm gegenüber. Wenn meine Erinnerung mich nicht trog, hatte er nie gerne berauschende Getränke zu sich genommen.

Er griff zur Tasse, kostete, ließ den Schluck wirken, als prüfe er eine Formel. Dann sah er mich wieder an, klar und gesammelt, und nickte leicht. „Guter Tee, durchaus gelungen. Besser als vieles, was an der Akademie serviert wird. Dort schmeckt sogar Kräutertee nach Fußnoten.“

Ein stiller Moment entstand – nicht leer, sondern voll von dem, was nicht gesagt wurde.

Ich erinnere mich an Euch in der Halle der Spiegel“, sagte Aetherium. „Ihr habt dem Illusionsmeister widersprochen. Ohne zu zögern. Und Ihr hattet recht.“

Ich lächelte. „Ich war jung. Und frech. Jetzt bin ich lediglich frech geblieben.“

Er lachte. Ein kurzes, echtes Aufblitzen. „Vielleicht wart Ihr damals schon weiter, als wir alle dachten.“

Wir sprachen nicht viel mehr. Die Geräusche der Taverne legten sich wie ein gewebter Klangteppich um uns – Gläser, Stimmen, das entfernte Knistern des Feuers.

Schließlich sagte er: „Ihr habt etwas erschaffen, das ich nicht erwartet hätte. Kein Lehrstuhl. Keine weitere Abhandlung. Etwas Eigenes. Etwas Echtes.“

Ich wusste nicht, was ich tat. Ich folgte nur dem, was mir fehlte.“

Und genau das“, sagte er, „unterscheidet eine Gelehrte von einer Schöpferin.“

Doch sagt, Lady Bareti – weshalb habt Ihr ausgerechnet meinen Oheim eingeladen? Nicht, dass er sich nicht geschmeichelt gefühlt hätte, aber Eure Worte ließen vermuten, dass es mehr als bloße Höflichkeit war.“

Ich ließ die Worte einen Moment sacken, ehe ich antwortete.
Ich hatte gehofft, ihn persönlich zu sprechen, ja. Nicht aus alter Sentimentalität – sondern weil ich Informationen benötige. Zugang. Ein paar Türen, die ich selbst nicht mehr öffnen kann oder will.“

Ich drehte mein Glas in den Händen. „Lord von Finsterrode war einst jemand, den ich – trotz aller Verschrobenheit – als verlässlich kannte. Und ich hatte gehofft, er könnte mir helfen, ein paar lose Fäden zusammenzuführen.“

Ich hob den Blick. „Da er aber nicht zu erreichen war… hoffe ich nun, dass Ihr bereit seid, an seiner statt mit mir zu sprechen.“

Er antwortete nicht sofort. Ein leichtes Neigen des Kopfes – wie jemand, der abwägt, ob dies bloß Pflicht sei… oder bereits etwas anderes.

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Bild

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Später am Abend saß ich allein am Kamin. Die Glut war fast erloschen, doch das Licht der Laterne warf lange Schatten an die Wand, als wolle es mir Geschichten erzählen, die ich längst vergessen hatte. Der Tag hatte sich gelegt, und mit ihm die Gespräche, das Lachen, das Klirren der Gläser. Nur die Stille blieb – und ein Gefühl, als hätte ich etwas wiedergefunden, was ich nie verloren glaubte.

Der Austausch mit Aetherium war nicht nur produktiv, sondern in vielerlei Hinsicht erhellend gewesen. Zwischen den Zeilen, in seinen Blicken und den leise formulierten Andeutungen lag mehr, als Worte allein hätten fassen können. Die Hinweise, die er mir gab, waren wie lose Fäden in einem dichten Gewebe – doch sie fühlten sich an, als könnten sie zu etwas führen. Etwas Größerem. Vielleicht nicht sofort, aber bald. Und ich würde bereit sein, wenn es so weit war.

Es würde Zeit brauchen, das wusste ich. Tage, vielleicht Wochen. Doch erstmals seit Langem hatte ich das Gefühl, dass etwas in Bewegung geraten war. Nicht nur hinter den Mauern der Taverne, sondern auch in mir. Ich hatte gesprochen, gefragt, vertreten – nicht aus Trotz oder Pflichtgefühl, sondern mit einem Hauch von Gewissheit. Und diese Taverne, dieses Haus mit seinen vielen Schatten und Lichtern, war dabei nicht nur Kulisse, sondern Stimme gewesen. Meine Stimme.

Mein Blick schweifte ab, suchte instinktiv das Regal über dem Kamin. Der Blick zur Krake, die immer deutlicher hervorzukommen schien. Etwas war anders. Ich bemerkte es erst jetzt.

Ein weiterer Gegenstand ruhte auf dem Sims unter der geschnitzten Krake. Neben meinem angelehntem Stab, zwischen der Harfe, der Laterne, der Sanduhr und dem Strauß getrockneter Kräuter lag nun – ein Hammer.

Ein alter Schmiedehammer. Schlicht, kantig, von Gebrauch gezeichnet. Kein Prunkstück. Auch keine Trophäe. Einfach hingelegt. Fast unauffällig. Aber nichts hier war je beiläufig.

Ich erhob mich und trat näher, musterte das Werkzeug, als könnte ich darin mehr erkennen als Holz und Eisen. Und vielleicht tat ich das auch. Etwas an diesem Hammer wirkte wie eine Erinnerung, die nicht die meine war.

Nicoletta?“

Sie trat aus der Speisekammer, ein Tuch in der Hand. „Der Junge hat ihn dort hingelegt. Der, dem Ihr erlaubt habt, das Fasslager umzubauen.“

Ich drehte mich zu ihr um. „Ein Schmiedehammer?“

Sein erster. Er sagte, er tauge nicht zur Holzarbeit – der Kopf zu schwer, der Griff zu kurz. Aber wegwerfen konnte er ihn nicht.“

Ich fuhr mit dem Finger über den Griff. Die Oberfläche war rau, abgegriffen, aber noch voll von Zweck und Gewicht. „Er hat also…“

Die alte Werkstatt aufgelöst. Die Ordnung übernommen, die Thorian begonnen hatte. Und beim Sortieren einen besseren Hammer gefunden. Diesen hier hat er dagelassen. Nicht aus Nachlässigkeit. Als… Zeichen, nehme ich an.“

Ich nickte langsam. Die Glut im Kamin knisterte leise, und für einen Moment erschien mir der Schatten der Krake über uns nicht wie Zierwerk, sondern wie ein stiller Zeuge. Vielleicht sogar ein Hüter.

Ein Zeichen also.

Wie Dinge sich offenbar hier finden – oder gefunden werden. Und wie ein alter Hammer plötzlich mehr Bedeutung tragen konnte als manches wohlformulierte Versprechen.

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Eintrag im türkisfarbenen Notizbuch:
Aetherium kam nicht für mich – sondern weil Barack verschwunden ist. Die Einladung war an ihn gerichtet, und ich hatte gehofft, auf diesem Weg an Informationen zu gelangen, die mir sonst verschlossen bleiben würden. Doch nun ist es sein Neffe, der geantwortet hat – und vielleicht ist genau das besser so. Er kam mit offenen Augen, mit ruhiger Stimme und einem Verstand, der zwischen den Worten lauschte – und dem seines Oheims in nichts nachsteht.“
Bareti
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Späne, Stimmen & ein stiller Schwur – oder: Wie sie mehr hielten, als nur das Dach

Beitrag von Bareti »

Episode XII
„Späne, Stimmen & ein stiller Schwur – oder: Wie sie mehr hielten, als nur das Dach“
Erzählt von Bareti, Wirtin ohne Werkzeug – doch mit Vertrauen in andere Hände
Notizbuch, Eintrag 147
„Ich war kaum zwei Tage weg. Zwei Tage, in denen ich dachte, die Taverne würde sich erholen, vielleicht einfach zur Ruhe kommen. Aber stattdessen wurde sie vom Staub durchdrungen, und selbst das Dach schien zu seufzen. Ich stelle mir manchmal vor, wie das Gebäude in meiner Abwesenheit aufseufzte, als hätte es gespürt, dass sein Schutz brüchig geworden war. Der Wind zog durch Ritzen, die es nie zuvor gegeben hatte, und jeder Tropfen Regen trug ein kleines Stück Geschichte fort, das wir mühsam bewahrt hatten. In solchen Momenten wünscht man sich, das Mauerwerk könnte reden – oder wenigstens flüstern, wohin man zu eilen hätte.“
Am Morgen nach meiner Abreise nach Maginica näherte sich ein Sturm. Am Horizont über dem Meer sah ich eine dichte, dunkle Wolkenwand, durchzogen von Blitzen und begleitet von einem stetigen Grollen, das selbst auf Entfernung spürbar war. Das Meer schien unter dem Druck des nahenden Unwetters förmlich in sich zusammenzusinken, und in mir regte sich eine Unruhe. Ich erinnerte mich, wie der Wind früher durch die Spalten der Taverne geheult hatte, wenn er sich seinen Weg zwischen die alten Balken gebahnt hatte. Doch diesmal war ich nicht da, um es mitzuerleben.

Ich war bei alten Bekannten aus alten Kreisen, in Gespräche vertieft, die sich um komplexere magische Themen drehten – um vergessene Formeln, um die Art und Weise, wie Wissen nicht nur Macht verleiht, sondern Verantwortung fordert. Unsere Diskussionen über Runen waren nicht rein theoretisch – wir betrachteten sie als Bindeglieder zwischen Wirkung und Verpflichtung. Inmitten dieser Gespräche verspürte ich eine kurze Unruhe: ein leichtes Ziehen hinter den Schläfen, ein Unbehagen, das sich nicht recht greifen ließ. Als hätte ein vertrauter Ort plötzlich gezuckt, sich gemeldet.

Mein Blick wanderte über die flackernden Kerzen und die offenen Schriftrollen auf dem Tisch. Ein Bild stieg in mir auf – das Dach der Taverne, schief, alt, nicht richtig gesichert. Ich stellte mir Nicoletta vor, wie sie mit skeptischem Blick auf die schiefen Sparren starrte, Ulaf, der mit einem Schulterzucken meinte, das werde schon halten. Ich sah die Szene so deutlich vor mir, dass sie fast real wirkte. Und dann – schob ich den Gedanken weg. Ich wandte mich wieder den Gesprächen zu, versuchte mich auf die Worte zu konzentrieren. Vielleicht hätte ich stattdessen zuhören sollen – nicht den Stimmen im Raum, sondern dem Gefühl in mir.

Erst nach meiner Heimkehr erfuhr ich, was sich in meiner Abwesenheit zugetragen hatte.

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Der Nordgiebel war alt gewesen, das wussten wir. Thorian hatte mehr als einmal darauf hingewiesen, Ulaf hatte gemurmelt, man könne dort „mit einem Hammerschlag mehr als ein Eichhörnchen wecken“. Und nun – war er eingestürzt. Nicht vollkommen, aber genügend, um Wind und Wasser durchzulassen. Die Küche wurde nass. Im Lager quoll Mehl zu Brei. Eine der Lampen fiel um und zerbrach, das Regenwasser spülte Tinte von meinem alten Notizstapel. Auch ein kleiner Regalboden gab nach; ein Krug fiel und zerschellte auf dem Steinboden, und das Wasser, das aus ihm sickerte, vermischte sich mit feinem Staub zu einem grauen Brei. Der alte Teppich vor dem Kamin war durchnässt, die Fasern aufgequollen, das Muster kaum noch zu erkennen. Auf der Fensterbank lagen Kräuterbündel, zum Trocknen ausgelegt – nun durchtränkt, ihr Duft verwaschen. Später erzählte mir Nicoletta, dass ein Windstoß sogar das kleine Ahnengemälde von der Wand gerissen hatte. Es war glücklicherweise nur der Rahmen gesplittert, nicht das Bild selbst. All das – kleine Dinge, könnte man meinen. Doch zusammen waren sie ein Echo des Versäumnisses. Ein Zeichen dafür, wie rasch das Vergangene aus den Fugen geraten kann, wenn man nicht da ist, um es zu halten.
Notizbuch, Eintrag 148
„Sie hätten mich rufen können, ich hatte ihnen extra Anweisungen und ein Medaillon hinterlassen. Aber ich hatte unterschätzt wie sehr auch ihnen die Taverne am Herzen lag. Nicoletta hatte zuerst gezögert. Sie lief zwei Mal im Schankraum auf und ab, den Blick zur Decke gerichtet, bevor sie entschlossen den Besen packte. Vielleicht war es Wut, vielleicht Sorge, vielleicht einfach Pragmatismus. Ulaf sagte kein Wort. Er ging zum Sims über dem Kamin und nahm den alten Hammer aus dem Werkraum in die Hand. Seine Bewegungen waren ruhig, fast rituell.“
Es begann mit einer Decke. Ulaf spannte sie über das Loch, fluchend, rutschend. Nicoletta holte Eimer, Lappen, Bretter. Sie arbeiteten, obwohl keiner von ihnen je ein Dach gedeckt hatte. Und doch – sie taten es. Zusammen. Jeder auf seine Art. Die ersten Bretter waren krumm, das Wasser sickerte durch. Ulaf rutschte ab, fiel in eine Tonne mit alten Zwiebeln. Nicoletta lachte. Erst da begann es zu funktionieren. Sie scherzten, stritten, fluchten. Und sie blieben. Kein einziger verließ die Taverne, bis das Loch notdürftig gedeckt war.
Notizbuch, Eintrag 149
„Ulafs Hände zitterten kein bisschen, auch nicht, als der Regen erneut auf das Dach peitschte. Er hob den Balken an, ein Versuch, dann noch einer – beim dritten glitt er wieder ab. Nicoletta knirschte mit den Zähnen, murmelte etwas Unverständliches. Beim vierten Mal aber: Ein sattes, solides Klacken. Der Balken hielt. Sie sah Ulaf an, klopfte auf den Hammergriff und sagte: 'Dem da vertrau ich mehr als meinem Bauch.' Ich hätte beinahe gelacht, als sie mir das erzählten – denn Nicolettas Bauchgefühl hat schon oft mehr Leben gerettet, als mein Studium je erklären könnte.“
Der Hammer lag schwer in seiner Hand, aber er führte ihn mit einer Ruhe, die ich sonst nur von Magiern kannte, die ihre Worte wogen. Nicoletta erzählte mir später, dass sie beim Klang des ersten Nagels an die Harfe gedacht hatte, die unter dem Kamin liegt. Vielleicht war es nur Einbildung. Vielleicht auch nicht. Klang ist Erinnerung.

Späne flogen. Der Staub alter Balken vermischte sich mit frischem Harz. Ein Gast – ich glaube, sein Name war Marn – schleppte einen Tragbalken mit hoch. Ein anderer reichte Nägel. Niemand fragte, ob sie helfen sollten. Sie taten es einfach, sie kamen aus Moonglow angelaufen, nur um zu helfen, trotz des Sturms. Sogar ein alter Händler, der kaum noch sprechen konnte, hielt eine Leiter fest, während Nicoletta hinaufstieg. Die Taverne war für viele ein Zuhause geworden. Vielleicht war das Dach für sie mehr als nur ein Dach.

Dann kam Lirael. Wie ein Schatten durch den Regen, kaum sichtbar, aber spürbar, wie ein Gedanke, der sich langsam in einen Raum schiebt. Sie war durchnässt bis auf die Haut, ihr Mantel klebte an den Schultern, das Haar vom Wind zerzaust. Sie trat nicht sofort ein, sondern blieb unter dem Dachvorsprung stehen, betrachtete schweigend das Chaos vor sich – Balken, Eimer, improvisierte Planen, erschöpfte Gesichter. Ihre Augen wanderten langsam über die Szene, als würden sie jedes Detail aufnehmen, jedes Versagen, jede gelungene Improvisation.

Sie hatte mich gesucht, das war offensichtlich. Doch anstatt zu fragen oder ihren Weg fortzusetzen, legte sie ihren Rucksack schweigend ab, zog sich die nasse Kapuze vom Kopf und trat an Ulaf heran. Sie sprach kein Wort, aber ihre bloße Anwesenheit veränderte etwas. Die Müdigkeit in Nicolettas Blick wich kurzzeitig einer Konzentration, die man lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Ulaf hob kurz den Kopf, dann reichte er ihr ohne Worte einen Beutel mit Nägeln.

Sie half. Nicht mit Magie, sondern mit Blick und Stimme. Ihre Anweisungen waren knapp, aber treffend, voller Sachverstand. Nicoletta folgte ihnen, ohne zu zögern. Auch Ulaf gehorchte, nicht wie einem Befehl, sondern einem Impuls. Lirael arbeitete leise, effizient.

Immer wieder, so erzählte mir Nicoletta, war Lirael genau dort, wo man sie am dringendsten brauchte. Sie hielt eine Leiter, als Nicoletta beinahe das Gleichgewicht verlor, und stützte einen Balken, bevor er kippen konnte. Wenn jemand zögerte, reichte sie wortlos das passende Werkzeug. Und als die Helfer zu ermüden drohten, erschien sie mit einem Krug Wasser, still und selbstverständlich, als hätte sie gespürt, wann es gebraucht wurde. Sie sagte kaum etwas, aber ihre Präsenz war wie ein ruhiger Strom, der alles in Bewegung hielt.

Ein Moment wurde mir als fast magisch beschrieben: Nicoletta erzählte, dass Ulaf einen Verbinder zwischen zwei tragende Balken geschlagen hatte, aber das Holz wollte nicht greifen. Es knackte, bewegte sich, hielt nur mit Mühe – als fehlte etwas, das stärker war als Nägel. Lirael trat ohne ein Wort näher, legte die Hand auf die Verbindung und schloss für einen Atemzug die Augen. Ein leises Flüstern entglitt ihren Lippen, kaum hörbar, fremd in Klang und Rhythmus – wie Wind, der durch hohe Äste streicht. Die Luft wurde kühler, sagte Nicoletta, und der Staub auf den Balken begann, sich leicht zu kräuseln. Dann legte sich Stille über den Raum, und ein leiser Ruck ging durch das Holz – kein Krachen, kein Splittern, nur ein sattes, tiefes Einrasten. Die Verbindung war fester als zuvor, wie verwachsen. Ulaf prüfte es, zog daran, stemmte sich dagegen. Es hielt. Und keiner fragte, was sie getan hatte.

Wäre ich dort gewesen, ich hätte ihr vermutlich Fragen gestellt. Oder sie einfach umarmt. Aber ich war nicht dort. Ich hörte es erst später, als Nicoletta es mir mit einer Mischung aus Staunen und Respekt erzählte.

Später fand Nicoletta unter einem Balken ein altes Tuch, durchweicht und fast zerfallen. Darauf war mein Zeichen gestickt, das ich vor Jahren benutzt hatte. Niemand wusste, wie es dorthin gekommen war. Vielleicht war es Zufall. Oder Erinnerung. Vielleicht auch jemand anders.
Notizbuch, Eintrag 150
„Nicoletta erzählte mir beiläufig von einem weiteren Helfer, der am späten Abend noch aufgetaucht sei. Schweigsam, aber begabt. Er sei gekommen, habe sich umgesehen und dann, ohne viele Worte, einfach mitangepackt. Nägel gesetzt, Balken gestützt, ein Riss im Gebälk abgebunden. Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern – oder wollte es nicht.“
Am nächsten Morgen, als die Sonne langsam über die Hügel stieg und die ersten Strahlen die feuchten Schindeln berührten, offenbarte sich ein neues Problem: Der Pfad zur Taverne, ohnehin stets etwas unbeständig, war von einem Erdrutsch teilweise verschüttet worden. Geröll, Schlamm und entwurzelte Pflanzen versperrten den Weg, der so viele Reisende hergeführt hatte. Nicoletta entdeckte es zuerst und schlug Alarm. Ulaf fluchte leise, während er den Hang betrachtete.

Doch anstatt zu verzweifeln, begannen sie, erneut anzupacken. Mit Schaufeln, bloßen Händen und improvisierten Werkzeugen begannen die Gäste und Freunde der Taverne gemeinsam, den Weg freizuräumen. Steine wurden weggetragen, Erde verfestigt, Unebenheiten geglättet. Als der gröbste Schutt beseitigt war, entschied man, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen sei, den Pfad endlich dauerhaft zu befestigen. Es war Ulaf, der das erste Stück Stein vorsichtig setzte. Nicoletta legte den zweiten daneben, und bald reihten sich Gäste, Kinder, sogar ein alter Mönch ein, der statt zu predigen lieber Steine trug.
Notizbuch, Eintrag 151
„Als sie mir von dem neuen Weg erzählten, dachte ich zuerst an ein paar notdürftig hingelegte Platten, ein wenig festgetretene Erde. Doch es war mehr. Stein für Stein hatten sie ihn gesetzt, gemeinsam, schweigend, in einer fast andächtigen Reihenfolge. Nicoletta meinte, es habe sich angefühlt wie ein stilles Versprechen an jeden, der noch kommen würde. Kein großes Fest, keine Worte – aber ein Weg. Ein echter Weg.“
Gemeinsam verlegten sie frisches Pflaster, Stein um Stein, Schritt für Schritt, bis ein neuer, fester Weg entstand, der nicht nur stabiler, sondern auch würdiger schien. Die Sonne stieg höher, und mit ihr wuchs das Gefühl, etwas Bleibendes geschaffen zu haben.

Gerade als der letzte Abschnitt gelegt war und die ersten erschöpft zu Boden sanken, kam aus der Ferne das vertraute Klappern von Hufen. Thorian erschien – ruhig, gelassen wie immer – auf einem von zwei kräftigen Mustangs gezogenen Wagen. Der Wagen war schwer beladen mit fein bearbeitetem Holz. Ohne ein Wort zu verlieren, stieg er ab, prüfte das notdürftig geflickte Dach, nickte nur und begann, es korrekt auszubessern. Nicht schneller, aber gründlicher, Balken für Balken, mit der Sicherheit eines Mannes, der wusste, was er tat.

Die Taverne schwieg für einen Moment, erfüllt vom gleichmäßigen Hämmern und dem knirschenden Schritt auf frischem Stein. Und als sich alle umsahen, spürten sie: Etwas war gewachsen – nicht nur das Dach, nicht nur der Weg. Sondern sie selbst.

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Ich kam zurück, als die Sonne wieder schien. Das Dach war geflickt. Nicht perfekt. Aber stark. Die Fenster standen offen, und der Geruch von frischem Holz mischte sich mit dem letzten Hauch von nassem Moos und verbranntem Harz. Die Stille hatte etwas Feierliches, als würde das Gebäude selbst einen Moment innehalten, bevor es mich empfing.

Den neuen Weg bemerkte ich nicht gleich – ich war nicht über ihn gekommen. Mein Rückweg hatte mich von der Seite hergeführt, über einen kleinen Pfad, den kaum jemand nutzte. Erst später sah ich die gleichmäßigen Steine, die frischen Spuren von Arbeit und Mühe. Der Gedanke, dass sie diesen Weg gemeinsam gelegt hatten, ließ mich länger innehalten, als ich es erwartet hätte.

Als ich eintrat, war ich verwundert, Lirael im Schankraum bei den anderen zu sehen. Sie saß dort, als wäre sie nie woanders gewesen, redete nicht viel, aber ihre Gegenwart wirkte wie ein Anker. Nicoletta stand hinter dem Tresen, ein Tuch über der Schulter, die Hände beschäftigt, aber die Augen wach. Ulaf saß am Tisch gegenüber von Lirael. Die Stimmung war keine ausgelassene. Eher die Ruhe nach einem Sturm, in der man sich gegenseitig in Erinnerung ruft, dass man nicht allein war. Niemand bemerkte mich gleich, und ich war froh darum. Ich trat zur Seite, ließ den Blick schweifen – über den Raum, über die Menschen, über das, was geblieben war. Und was gewachsen war.

Mein Blick blieb an dem Sims über dem Kamin hängen. Unter der Krake - heute noch besser zu erkennen als bei meiner Abreise - lagen die Gegenstände, die Symbole, wie ich sie nannte.

Die Laterne – sonst eher stilles Beiwerk – glomm heute heller, als hätte der Sturm selbst sie entzündet. Ihr Licht war nicht grell, aber tief und durchdringend, beinahe magisch – als würde es aus einer inneren Erinnerung gespeist. Es war kein mechanisches Leuchten, kein Flackern von Docht oder Öl – vielmehr ein ruhiges Glimmen, wie von einer Seele, die leise atmet. Es war ein Licht, das nicht nur beleuchtete, sondern erzählte.

Direkt daneben stand die kleine Harfe, die einst ein wandernder Barde zurückgelassen hatte. Fein gearbeitet, mit einem zarten Schnitzmuster entlang des Rahmens, stand sie leicht schräg angelehnt an den Kaminstein, als wäre sie bereit, jeden Moment einen Ton von sich zu geben – aber nur, wenn man es wirklich brauchte. Ihr Holz glänzte weich im Licht der Laterne, und man konnte fast meinen, es vibriere leicht, ganz im Einklang mit dem Raum.

Daneben lag der Schmiedehammer – schwer, ruhig, und doch voller Versprechen. Er war kaum größer als eine Kinderfaust, aber mit einer Kraft, die nicht in seiner Masse lag, sondern in seiner Geschichte. Die Bahn war blank, der Griff abgeschliffen von der Arbeit. Er ruhte dort, wie ein Werkzeug, das wusste, dass seine Aufgabe nicht vorbei war, sondern nur ruhte.

Ein sorgsam gebundenes Kräuterbündel lag auf der anderen Seite – getrocknet, aber nicht spröde. Der Duft war kaum wahrnehmbar, nur ein Hauch von Eisenkraut und Lavendel, aber er hing in der Luft wie eine leise Erinnerung an Fürsorge und Heilung. Die Kräuter waren sorgfältig gewählt, vielleicht von dem Fremden, vielleicht von früher – es war schwer zu sagen.

Und dazwischen eine Sanduhr, aufrecht stehend, deren Körner seltsam still wirkten – nicht weil sie festsaßen, sondern weil sie zu warten schienen. Vielleicht auf ein Zeichen. Vielleicht auf einen neuen Anfang, eine neue Geschichte. Die Glaskammern spiegelten das Licht der Laterne, und in diesem Spiel aus Glas und Glimmen lag eine fast alchemistische Ruhe.

Zusammen wirkten sie nicht willkürlich, nicht wie zufällige Dekoration. Sie waren ein stiller Altar der Symbolik – ein Mosaik aus Bedeutung, aus dem, was wir waren, was wir werden wollten, und was wir nicht vergessen dürfen. Und direkt über den Symbolen die Krake, auf deren Konturen die Schatten aller Gegenstände waberten – als wollte sie sagen: Ich war hier. Ich bleibe. Und ihr auch.
Notizbuch, Eintrag 152
Sie brauchen mich nicht, dachte ich. Und dann: Doch. Aber anders.
Es war kein Gedanke, der sich mit Bitterkeit regte. Eher wie das Loslassen eines alten Anspruchs, den ich selbst nie ausgesprochen, aber immer mit mir getragen hatte. Ich hatte oft geglaubt, dass mein Platz in der Mitte sein müsse, dass ohne mich etwas fehlte – wie ein Zauberkreis ohne seinen Schlussstrich. Doch sie hatten gehandelt, entschieden, gebaut. Nicht weil sie mussten, sondern weil sie wollten. Und vielleicht ist das der stärkere Zauber.

Die Taverne hatte gehalten, trotz Sturm und Riss. Weil sie gemeinsam angepackt hatten. Nicht heldenhaft. Nicht perfekt. Aber echt. Ich erkannte, dass mein Platz nicht in der Mitte sein musste, sondern dort, wo ich gebraucht wurde – manchmal am Rand, manchmal nur als Gedanke, manchmal als Erinnerung an das, was möglich ist, wenn man einander vertraut.“
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Depesche, Desaster & Durchblick – oder: Wie ein Fest fast zur Falle wurde

Beitrag von Bareti »

Episode XIII
„Depesche, Desaster & Durchblick – oder: Wie ein Fest fast zur Falle wurde“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit Notizbuch, Nerven – und neuer Entschlossenheit.

Der Tag begann mit Tee. Das war in letzter Zeit selten genug, und ich hatte mir diesen einen Schluck als kleine Flucht vor dem Chaos der letzten Wochen gegönnt. Die Luft roch noch nach dem gestrigen Brot, das Ulaf gebacken hatte, und draußen spannte sich ein heller, klarer Morgenhimmel über die Baumwipfel. Ich hatte die Tasse kaum halb geleert, als Nicoletta die Tür zum Schankraum aufriss, als gelte es, ein Feuer zu löschen. Ihr Blick sprach von Dringlichkeit. Ihre Haltung von Stolz. Und ihre Hand hielt ein sorgsam versiegeltes Schreiben.

Sie atmete schwer, hatte offenbar einen langen Weg hinter sich. Ihre Haare klebten leicht an der Stirn, und ihre Stiefel waren staubig.

„Eine Depesche für die Taverne“, sagte sie. „Ich habe sie in Moonglow abgefangen – direkt vor dem Zunftbüro. Der Bote hat mich beinahe umgerannt, blieb dann stehen und meinte: 'Ah, du gehörst doch zur Taverne, oder? Das erspart mir einen Weg.'“

Ich nahm das Pergament entgegen, noch ahnungslos, dass mein restlicher Tee in diesem Leben wohl kalt bleiben würde. Zunächst freute ich mich über die kunstvolle Gestaltung, das Siegel und den wohlklingenden Titel – und las laut die ersten Sätzen vor:

„… findet das Bankett der Zunftmeister in der Taverne 'Die Taverne' statt …“

Ich musste schmunzeln. „Ein Zunftbankett, hier bei uns!“, sagte ich. „Das ist... das ist tatsächlich eine Ehre.“

Nicoletta strahlte, Ulaf nickte anerkennend. Ich las weiter – und dann stutzte ich. Mein Finger glitt über das Datum. Noch einmal. Und noch einmal. Ich las es laut, damit jemand es bestätigen möge.

„… beginnt die Festlichkeit in drei Tagen zur zwanzigsten Abendstunde …“

Die Freude in allen Gesichtern fror ein. 

Erneut las ich das Schreiben. 

„… findet das Bankett der Zunftmeister in der Taverne 'Die Taverne' statt. Wie beschlossen und angekündigt, beginnt die Festlichkeit in drei Tagen zur zwanzigsten Abendstunde…“

Nicoletta wirkte nun weniger stolz. Ihre Hände verkrampften sich um das Tablett, das sie unbewusst noch immer hielt. Ihr Blick wanderte über meine Schulter hinweg ins Leere, als müsse sie die Zahl der verbleibenden Stunden selbst berechnen. Ulaf begann zu husten, ob des verschluckten Bieres oder der Nachricht wegen, blieb unklar. Es war kein lautes Husten – mehr ein krampfhaftes Räuspern, das sich hartnäckig hielt. Sein Blick sprach von Mitleid, vielleicht auch von einer tief sitzenden Sorge. Vielleicht war es nur Schreck – oder die Erinnerung an eine ähnliche Katastrophe in längst vergangenen Tagen. Er sagte nichts, aber ich erkannte das Zittern seiner Finger, als er den Henkel des Krugs neu umfasste.

„Drei Tage?“ fragte ich. Für einen Moment wusste ich nicht, ob ich lachen oder die Tür abschließen sollte. Drei Tage. Für ein Bankett, das nie angekündigt worden war. Mein Blick huschte zum Fenster, als könnte die Morgensonne eine Antwort liefern. „Habt ihr etwas von einem Fest gehört? Von einem Zunftbankett, das hier stattfinden soll?“

Nicoletta schüttelte langsam den Kopf. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, als versuche sie, in sich selbst nach einer vergessenen Erinnerung zu graben. Ulaf sah zur Tür, als erwartete er, dass noch jemand mit einer zweiten Depesche hereinschneien würde – oder ein Bote mit der Nachricht, dass alles nur ein Scherz sei. Doch die Tür blieb still, nur der Wind spielte mit dem Griff.

Ich seufzte tief. Dann nahm ich das Schreiben, das sich plötzlich schwerer anfühlte, erneut in die Hand, entrollte es mit mehr Nachdruck, als nötig war, und hob es den beiden entgegen.

„Das hier... das ist keine freundliche Anfrage. Das ist eine letzte Warnung.“

Für einen Moment war alles still. Nur das junge Feuer im Kamin war zu hören, jedes leise Knacken ein Schritt in eine Richtung, auf die wir nicht vorbereitet waren.

Nicoletta und Ulaf sahen sich an, dann mich. Für einen Moment hielten wir den Atem an – wie Figuren auf einem schlecht gemalten Gemälde, das gleich zerfließt. Dann platzte alles auf einmal aus uns heraus. Wer wann was gehört hatte, ob der Bote das Schreiben absichtlich verspätet hatte, ob es vielleicht ein zweites, verlorenes Schreiben gab, das nie angekommen war. Ulaf schwor, er hätte vor zwei Wochen etwas von einem Festtermin gehört, dabei sei es aber nicht um unsere Taverne gegangen. Nicoletta erinnerte sich dunkel an eine Nachfrage des Bäckermeisters, die sie nicht ernst genommen hatte. Ich selbst hörte mich fragen, was genau überhaupt getan werden müsse für ein solches Bankett. Vielleicht wollte ich damit Zeit gewinnen, vielleicht suchte ich nach einem Strohhalm aus Klarheit.

Am Ende sprachen alle durcheinander. Stimmen überschnitten sich, Gesten wurden größer, und irgendjemand stieß beinahe die Teekanne um. Aber mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fast rührte, griff Nicoletta nach Papier, Ulaf nach dem Vorratsbuch – und ich nach meinem Notizbuch. Die Schufterei begann umgehend.

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Es folgten drei der längsten Tage meines bisherigen Lebens.

Noch am selben Morgen hatte ich mit krakeliger Schrift eine Liste ins Notizbuch geschrieben, die wenig später von einer zweiten überkritzelt wurde. Dann von einer dritten. Und schließlich von einem losen Blatt ersetzt wurde, das ich an die Küchenwand nagelte. Ulaf zählte Vorräte mit der Präzision eines Alchemisten, fluchte jedoch laut, als er bemerkte, dass mehrere Säcke leer oder durchweicht waren.

Thorian bot an, den Saal neu zu bestuhlen. „Ich hab da noch was Feines mit Polstern in Moosgrün“, hatte er gesagt. Später, als ich erschöpft auf der Küchenbank saß, trat er kurz zu mir, hielt inne und meinte leise: „Nicht alles muss perfekt sein. Nur ehrlich.“ Ich hatte genickt – und die Liste trotzdem weitergeschrieben. Seinen Gehilfen fielen zwei der Stühle in einen Wassergraben, obwohl sie versicherten, die Ladung gut gesichert zu habe. Trotzdem waren die Sitzpolster hinterher nicht mehr zu gebrauchen.

Nicoletta war abwechselnd am Brunnen, bei den Lieferanten und auf dem Dach, weil irgendwo Ziegel klapperten – oder, wie sich herausstellte, ein Rabennest gebaut worden war. Zwischendurch schnappte sie sich einen zerknüllten Einkaufszettel von mir und murmelte: „Wenn ihr kocht, schreibe ich die Listen. Eure Handschrift macht mir Kopfschmerzen.“

Was folgte, war eine Lektion im Durchhalten, falls es die Götter so wollten. Noch bevor ich das Gefühl hatte, auch nur einen der vielen Aufgabenpunkte abgearbeitet zu haben, begannen die Rückschläge. Der Most, den wir frühzeitig bestellt hatten, war bereits bei der Anlieferung verdorben – säuerlich im Geruch, trüb in der Farbe und mit einer pelzigen Note auf der Zunge, wie Nicoletta bemerkte. Statt der festlichen Fasslieferung für das Bier wurde uns ein beschädigtes Holzfass übergeben, das bei der kleinsten Bewegung zu lecken begann. Der Händler wies natürlich jede Verantwortung von sich, das Fass hätte sein Lager unbeschädigt verlassen.

Als wir das Mehl überprüften, entdeckte Nicoletta eine wimmelnde Masse weißlicher Würmer darin. Sie hob den Sack mit spitzen Fingern hoch, rümpfte die Nase und versuchte noch zu scherzen, es handle sich um „zusätzliche Proteine“ – aber niemand lachte. Die Biester krochen so emsig durch das Mehl, als hätten sie den Liefertermin besser eingehalten als mancher Händler. Ich überlegte kurz, ob das Pulver noch zu Vogelfutter getaugt hätte, verwarf den Gedanken aber schnell.

Die gelieferten Kräuter waren von der Sonne gegart worden und rochen entsprechend modrig – ein Geruch zwischen altem Heu und feuchtem Leinen. Die Päckchen waren nicht nur warm, sondern regelrecht durchgeschwitzt, und der Rosmarin ließ sich in einem Stück biegen, als sei er aus Leder.

Und im Lager, wo wir Ersatz zu finden hofften, fanden wir stattdessen Ratten – dicke, fette Tiere mit wenig Scheu, die sich auf Vorräte stürzten und uns frech aus dunklen Ecken musterten. Einer von ihnen trug einen angebissenen Apfel im Maul und sah mich direkt an. Eine zweite kletterte elegant über einen Sack getrockneter Bohnen und schien sich dort ein Nest zu bauen. Wir zählten vier, vielleicht fünf – doch sie bewegten sich schnell, verschwanden zwischen Kisten und alten Decken, als hätten sie den Plan für das Lager selbst entworfen. Ulaf versuchte, mit einem Besen hinter ihnen herzugehen, schlug dabei aber nur eine Holzkiste entzwei. Danach wurde geflucht. Ulaf sagte irgendetwas von einem Buch. Am Ende musste ich zur Magie greifen um den ungebetenen Gästen Hausverbot zu erteilen, allem anderen schienen sie gewachsen zu sein.

Der Kamin im Schankraum, welcher als Saal dienen sollte, der erst vor wenigen Wochen gründlich gereinigt worden war, verweigerte plötzlich jeden Dienst. Der Rauch quoll nicht etwa zögerlich, sondern stur und mit Nachdruck in den Raum, als wolle das Haus selbst ein Zeichen setzen. Ein sehr großes, dicht geflochtenes Vogelnest hatte sich im oberen Bereich verkeilt – möglicherweise eingeblasen durch einen nächtlichen Sturm oder vom Dach gefallen. Es dauerte fast zwei Stunden, bis wir es entdeckten und mit vereinten Kräften herausziehen konnten. Nicoletta hatte einen halben Eimer Ruß im Haar, und Ulaf war der festen Überzeugung, dass ein besonders aggressiver Spatz ihn gezielt angeflogen hatte.

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Bild
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Und als wäre das nicht genug, stellte sich zu guter Letzt heraus, dass jemand – bis heute weiß niemand wer – sämtliche Tintenfläschchen mit Blaubeersaft aufgefüllt hatte. Ob absichtlich oder aus schlichter Verwechslung war unklar, aber das Ergebnis war dasselbe: Die Listen auf dem Küchentisch waren klebrig, unleserlich, und zogen eine beachtliche Anzahl an Wespen an. Zwei davon hatten es sich auf meinem Notizbuch bequem gemacht und mussten von Lirael beruhigt werden, ehe sie uns in Ruhe ließen.

Ich versuchte, etwas Ordnung im Chaos zu erhalten. Ich versuchte es wirklich. Wenn das Bier ausfiel, musste umgehend Ersatz organisiert werden. Ulaf kannte die besten Quellen jenseits von Moonglow – alte Kontakte, die nur wenigen bekannt waren. Aber wir zählten nicht mehr in Stunden, sondern in verstrichenen Lieferfristen und aufgebrauchten Nerven. Doch jede Stunde brachte neue Fragen, neue Probleme, neue Lösungen, die sogleich neue Probleme gebaren. Früher hätte ich für eine Einladung drei Wochen im Voraus ein solches Fest begleiten dürfen – als Gast, oder vielleicht als Auftraggeberin, nie als Gastgeberin. Ich hätte einen Sitzplan bewundert, nicht gezeichnet, hätte einen Serviettenfalter beauftragt, nicht kritisiert. Heute reichte es kaum für saubere Gläser.

Am Abend des zweiten Tages stand ich in der Küche und versuchte, einer Liste Herr zu werden, die sich selbst vermehrte. Ich hatte vier Punkte durchgestrichen und sechs neue notiert. Zwei davon hatte ich gestrichen – nur um sie eine Stunde später mit anderer Tinte wieder hinzuzufügen. Meine Tinte war zur Neige gegangen. Nicoletta schlief mit dem Kopf auf dem Arm am Tisch ein. Ulaf schnarchte im Lager zwischen zwei leeren Säcken. Am Nachmittag hatte ich ihn kurz im Lager erwischt, wie er über das kaputte Fass strich, das wir nicht mehr retten konnten. „Ein gutes Bier war das“, murmelte er. „Schade drum.“

Ich holte tief Luft, ließ den Blick durch den Schankraum schweifen und notierte einen letzten Satz ins Notizbuch: „Chaos lässt sich nicht planen. Am besten serviert man es einfach mit einem Lächeln.“

Ich ließ die Feder sinken, legte sie quer über die Seite. Die Tinte hatte gerade noch gereicht. Mein Blick fiel auf die feinen Spuren, die sie hinterlassen hatte – leichte Schlieren, an einer Stelle ein kleiner Tropfen. Ich hatte die Worte nicht geplant, aber sie fühlten sich richtig an. Nicht wie ein Schlussstrich – eher wie ein Seufzer.

Dann blies ich die Kerzen aus. Für einen Moment blieb ich im Dunkel stehen, den Rücken gegen den Tresen gelehnt. Meine Augen gewöhnten sich an das schwache Glimmen des Kamins, das in Wellen über den Boden kroch. Ich hörte das Knacken der Balken über mir, das leise Scharren einer Maus hinter dem Fasslager, und draußen den Nachtwind, der ein loses Stück Tuch durch die Dachrinne wehte.

Mein Blick fiel wieder auf das Notizbuch, das noch geöffnet auf dem Tisch lag. Die Seiten flatterten leicht im Luftzug – als wollte das Notizbuch selbst warnen. Es sah aus wie eine Kreatur mit dünnen Flügeln, bereit zum Aufbruch. Irgendetwas wartete noch auf uns. Ich wusste nur nicht, ob es das Fest war – oder etwas im Schatten dahinter. Und ich ahnte, dass es bereits unterwegs war.


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Der Abend des Festes kam schneller, als uns lieb war. Nur dank unserer gemeinsamen Bemühungen gelang es uns überhaupt, etwas auf die Beine zu stellen. Am Abend zuvor hatten wir noch Gläser gezählt, Etiketten beschriftet, Laternen poliert und Brotleibe nachgezählt, als hinge das Gelingen des gesamten Festes an einem einzigen Laib Roggen. Nicoletta hatte bis spät in die Nacht Tischdecken gestärkt, Lirael den Weinvorrat mit einem Aromazauber versiegelt und Ulaf ein letztes Mal den Fassverschluss kontrolliert, als wolle er ihm eine Seele einhauchen. Ich selbst hatte mich mehrfach an die Sitzordnung gesetzt und sie jedes Mal wieder verworfen – am Ende entschied ich mich dafür, den Lauf der Dinge selbst gestalten zu lassen. Es war einer jener Abende, an denen selbst das Licht der Laternen ein wenig zitterte – vor Müdigkeit, oder Erwartung.

Ich hatte mich für diesen Abend extra besonders herausgeputzt. Das Haar gebändigt, die Schürze gegen ein sauber geknöpftes Gewand getauscht, die Stimme für die Begrüßung geölt. Meine Zeit in höheren Kreisen war zwar bereits länger her, aber manche alte Handschuhe konnte man doch problemlos wieder anziehen. Und eben solche feinen Handschuhe trug ich an diesem Abend.

Die Taverne strahlte. Kerzen flackerten in kupfernen Haltern, Girlanden aus getrocknetem Hopfen und Farn schmückten die Balken. Es duftete nach Braten, nach Brot, nach Most. Und für einen flüchtigen Moment glaubte ich, alles könnte gutgehen.

Auch meine Gefährten waren herausgeputzt, auch wenn dies bei Ulaf etwas mehr Überzeugungsarbeit gekostet hatte. Sein Bart war frisch gestutzt, die Edelsteine sauber eingeflochten. Nicoletta trug ein besonders schönes rotes Hemd mit hellem Wams, die Haare geflochten, man konnte förmlich Liraels Handschrift darin erkennen.

Die Zunftmeister waren zahlreich erschienen, dazu Vertreter kleinerer Handelsbünde, einige Magier aus Moonglow und sogar ein Wachszieher aus Ocllo, der sein eigenes Siegelwachs als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Die Taverne drohte aus allen Nähten zu platzen, aber zum Glück war uns das Wetter zugetan und wir hatten vorsorglich einen Nebenraum und den Außenbereich hergerichtet.

Die Gäste trugen seidene Westen, funkelnde Broschen, kunstvolle Bärte, und einige sahen sich bei der Ankunft anerkennend um. Sie kommentierten das Licht, das von den polierten Laternen auf die Tischdecken fiel, den Geruch nach frischem Brot, den ausstaffierten Vorraum mit Blumenarrangement. Einer klopfte lobend auf die Holzvertäfelung und fragte nach dem Schreiner. Ich erwiderte höflich, dass er heute auch anwesend sei. Nicoletta bewegte sich geschickt durch das Gewimmel, das Tablett voller Krüge, das Lächeln exakt dosiert. Ihre Bewegungen wirkten fast choreographiert, als gehörten sie zur Vorstellung.

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Ich stand gerade am Tresen, wischte mir die Hände an einem Tuch, das ich später nie wieder benutzen würde, als ich sah, wie sie kurz ins Straucheln geriet. Ein Gast mit auffallend spitzen Schuhen war rückwärts getreten und hatte sie angerempelt. Nichts Ungewöhnliches – das Gedränge war beträchtlich. Nicoletta fing sich, entschuldigte sich, obwohl sie keine Schuld traf und begann die Krüge mit feinem Ale - noch am Morgen von einem neuen Lieferanten geliefert! - auf den Tisch abzustellen und zu servieren. 

Dann aber blieb Nicolettas Blick an einem der Krüge hängen, länger als notwendig. Sie stellte den Krug auf das Tablett zurück, sah sich suchend um und kam mit schnellerem Schritt zu mir zurück.

„Das da schäumt seltsam,“ sagte sie leise, kaum hörbar neben dem Lärm. „Und ich hab ordentlich gezapft. Genau so, wie Ulaf es gezeigt hat.“ Unsere Schankmagd hatte mich längst in der Kunst des zapfens hinter sich gelassen und war fast in der Lage Ulaf selbst Konkurrenz zu machen. Es gab für mich nicht den leisesten Zweifel, wenn sie es sagte.

Ich nahm den Krug vom Tablett und stellte ihn hinter den Tresen. Die Schaumkrone war dichter, feiner als sie sein sollte, und es stieg eine sehr dezente, fast metallische Note in meine Nase. Nur meine Erfahrung mit der Alchemie erlaubte es mir, die Note vom Biergeruch zu trennen. Ich sah Nicoletta an. „Du hast inzwischen einen guten Blick für sowas und du hast recht, da stimmt was nicht.“

Sie nickte, ihr Blick war wachsam, wach. „Ulaf?“ rief sie dann über die Schultern. „Kannst du mal?“

Der Zwerg kam aus dem Nebenraum, die Bartzöpfe leicht gewellt vom Bratendampf. Er sah den Krug, seine Miene wurde augenblicklich ernst. „Was’n los?“

„Zapffehler oder... mehr?“ fragte Nicoletta.

Ulaf nahm den Krug entgegen, roch daran, hielt ihn gegen das Licht. Dann tunkte er einen Finger hinein, tippte ihn sich gegen die Zunge – und spuckte sofort auf den Boden. Nicht mit dramatischer Geste, sondern mit reflexartiger Deutlichkeit.

„Kein Zweifel. Das ist vergiftet.“

Ich erstarrte. Nicoletta sah ihn entsetzt an.

„Alchogift,“ murmelte er, nun fast tonlos. „Verdünnt, für den Geschmack, aber sauber dosiert. Jemand meint es ernst. Das ist kein Zufall, das ist zielgerichtet. Eine Substanz dieser Art ist nicht leicht herzustellen, geschweige denn unbemerkt hier einzuschleusen. Das war vorbereitet. Und nicht von einem Laien.“

Mein Magen zog sich zusammen. Das Fest, das wir mit letzter Kraft auf die Beine gestellt hatten, war in Gefahr. Ich dachte an die langen Tage der Vorbereitung, die Müdigkeit in unseren Knochen – und nun dies. Mitten unter uns.

Ich zwang mich zur Ruhe, zwang meine Stimme zur Klarheit. „Bitte zapf ein neues Bier und bring es dem wartenden Gast, wir wollen keinen Verdacht erwecken.“

Nicoletta nickte, aber ich sah das Flackern in ihrem Blick. Sie ging mit raschem Schritt.

„Lirael?“ fragte ich Ulaf schließlich.

„Im Innenhof, unter der Linde.“
„Ich hol sie selbst, sag niemandem etwas. Noch nicht.“

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Minuten später standen wir im Vorratsraum. Die Musik des Festes drang gedämpft durch die Wände, vermischt mit Gelächter, Gläserklirren und dem entfernten Klang eines Lautenspielers. Nicoletta hielt Wache an der Tür, den Blick angespannt, doch die Haltung aufrecht. Sie hatte sich eine Locke aus dem Gesicht gestrichen und stand nun so ruhig da, als könne sie jeden Moment zustoßen – oder fliehen. Lirael beugte sich über den Krug, murmelte Formeln, und ein grüner Schimmer legte sich über die Flüssigkeit. Ihre Stirn war in Falten gelegt, die Finger bewegten sich wie bei einem leisen Tanz. Ein feiner Geruch von Eisen und Lavendel lag plötzlich in der Luft.

„Das ist keine gängige Substanz“, sagte sie schließlich. „Alchemisch kodiert. Jemand sollte gezielt ausgeschaltet werden. Es hätte wie ein Anfall gewirkt, aber wäre rasch tödlich verlaufen.“

„Ein Zunftmeister?“, fragte Ulaf.

Lirael schüttelte langsam den Kopf. „Unklar aber wahrscheinlich. Das Muster ist auf menschliche Grundkonstitution abgestimmt, mittleres Gewicht, kaum magische Resistenz. Ein durchschnittlicher Mensch mittleren Alters.“

„Und der Becher war gezielt markiert.“ warf ich ein „Eine dünne Schicht arkaner Signatur auf dem Henkel – jemand wusste genau, wem dieser Krug gereicht werden würde.“
„Wie viele wurden schon ausgeschenkt?“, fragte ich, bemüht ruhig zu klingen, obwohl mir das Herz bis in die Kehle schlug.

„Nur dieser eine war auffällig“, sagte Nicoletta. „Ich habe ihn direkt zurückgenommen. Aber wenn er untergemischt wurde, könnten andere betroffen sein.“ Sie schwieg kurz, dann fügte sie hinzu: „Ich habe ihn erkannt. Den Mann, der mich angerempelt hat. Ich glaube... das war kein Zufall.“

Ich atmete tief durch. Die Wände des Vorratsraums kamen mir plötzlich enger vor. „Wir müssen ihn finden. Denjenigen, der das platziert hat. Und zwar unauffällig. Keine Panik. Nicht vor den Gästen.“

Lirael schloss die Augen, als sammle sie etwas, das in ihr schwebte. „Ich kann der Spur folgen – aber es braucht Konzentration. Und Zeit.“ Sie blickte auf uns betrachtete uns andere. „Jemand muss die Gäste ablenken und die Aufmerksamkeit auf sich lenken“

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Ich kehrte in den Saal zurück und hob die Stimme. „Meine Damen und Herren, im Namen der Taverne möchte ich einen kurzen Dank aussprechen, ehe die Nachspeisen serviert werden …“

Ich sprach langsam, bedächtig. Worte als Nebelwand. Ich redete über die Freundschaft zwischen den Städten, über die Bedeutung des Handels in schwierigen Zeiten, über Brücken, die man nicht nur über Flüsse baue. Währenddessen tasteten meine Augen durch den Raum. Gesichter, Haltungen, Blicke.

Und dann öffnete sich die Tür. In der Bewegung elegant wie eh und je trat Melion, selbst ernannter Geschichtenweber in den Schankraum. Das Haar leuchtete fast wie Kupfer im Licht der Kerzen, das Gewand wie ein Narr aus einem alten Märchen. Er traf genau zum rechten Zeitpunkt ein, als hätte das Schicksal seine Schritte gelenkt.

Unsere Blicke trafen sich. Für einen Moment stand alles still. Es war, als hätte Melion die Szene betreten wie eine Figur aus einem besonders geschickten Theaterstück, direkt auf seinen Einsatz wartend. Ich hob leicht die Hand, nur einen Finger, eine Geste, die ihm zu verstehen gab: Bereite dich bitte vor. Er erwiderte den Blick mit einem kaum sichtbaren Nicken, fuhr sich mit einer langsamen, übertrieben eleganten Bewegung durch das Haar und begann sich sogleich vorzubereiten – seinen Umhang zu richten und eine feine Laute hervorzuholen, schlank und filigran wie aus Elfenhand geschnitzt. 

Ich ließ mir nichts anmerken, fuhr mit meiner Rede fort, während in meinem Hinterkopf Melions Anwesenheit wie eine zweite Flamme brannte. Ich redete weiter, hob die Stimme an den passenden Stellen, ließ die Zuhörer durch Pausen atmen, führte sie von einem Thema zum nächsten wie durch einen Garten bei Nacht – in der Hoffnung, dass der Duft sie ablenkte von dem, was im Dunkeln lauerte.

Hinter mir hörte ich, wie Melion sich bereit machte. Seine Stiefel setzten kaum hörbar auf, der Saum seines Umhanges raschelte wie trockenes Laub, als er in Stellung ging. Die ersten Kinder hatten ihn entdeckt – ihre Augen leuchteten. Ein älterer Mann drehte sich um, als spüre er die veränderte Aura. Und ich wusste: Jetzt war der Moment gekommen.

Dann wechselte ich Ton und Haltung. „Doch meine lieben Gäste … heute Abend ist mehr als nur Handel und Braten im Spiel. Heute ehren wir auch die Kunst. Und wie ließe sich dieser Abend besser krönen, als mit einem ganz besonderen Überraschungsgast?“

Ich trat beiseite, deutete zur Seite. „Ich präsentiere Ihnen: den unvergleichlichen Geschichtenweber Melion.“

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Ein Raunen ging durch den Raum. Melion trat ins Licht, verneigte sich tief – und begann. Worte, Musik, Bewegung: ein Zauber zwischen Dichtung und Illusion. Während die Gäste gebannt zusahen, wirkte es, als hielte die Welt für einen Moment den Atem an. Und genau das brauchten wir – Zeit. Ruhe. Aufmerksamkeit – gelenkt in andere Bahnen.

Lirael schob sich zwischen den Gästen hindurch, scheinbar achtlos doch fast unbemerkt. Ihre Fingerspitzen streiften Krüge, Glasränder, Ärmel. Nicoletta reichte weiter Getränke, blieb aber stets mit einem Auge bei jenem Gast, der sie angerempelt hatte. Ulaf stand beim Fass, füllte neue Krüge, zählte leise mit – und ließ seinen Blick über die Versammelten gleiten.

Dann kam das Nicken von Lirael. Subtil. Zielgerichtet. Sie deutete mit einem kaum merklichen Zucken ihres Handgelenks auf einen hageren Mann mit schmalem Gesicht und einem dunklen Ring. Ich erkannte es sofort: Der Ring war der Ursprung der arkanen Signatur. Die feine Spur, die ich zuvor auf dem Krug gespürt hatte, war hier noch klarer, als hätte sie sich in den Edelstein eingebrannt. Seine Augen wanderten unruhig über die Menge, nicht wie bei einem Gast, der sich orientiert, sondern wie bei jemandem, der Fluchtwege taxiert.

Er spürte wohl, dass man ihn beobachtete – seine Schultern spannten sich, sein Schritt wurde schneller. Für einen Moment blieb er stehen, warf einen prüfenden Blick zur Tür, als erwäge er zu fliehen. Dann schien er sich zu fangen, legte ein routiniertes Lächeln auf, griff nach einem herumstehenden Becher, um Normalität zu heucheln – und stellte ihn sofort wieder ab. Die Maske hielt kaum länger als ein Atemzug.

Nicoletta blieb in meiner Nähe stehen, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Das war der, der mich angerempelt hat.“ Ihre Finger zitterten leicht, doch sie hob das Kinn, als wolle sie dem Moment trotzen. Ich legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter, ehe sich der Mann in Bewegung setzte. Unauffällig, aber zielgerichtet, glitt er zwischen den Gästen hindurch. Sein Weg führte nicht etwa zum Tresen oder zu einem der Nebentische – er nahm Kurs auf die Küche.

Ich nickte Ulaf zu. Der Zwerg verstand sofort, stellte den Krug beiseite und verließ leise seine Position beim Fass. Binnen weniger Herzschläge war er in den Schatten verschwunden, nur sein Umriss huschte durch den Lichtsaum der Tür.

Der Mann schob sich durch die Flügeltür zur Küche. Ich trat zwei Schritte nach vorne, bereit, einzugreifen, falls nötig – doch da ertönte plötzlich ein Ruf. Kein Aufschrei, sondern eher ein Befehlston. Danach ein Klirren von Metall, als sei etwas Schweres gefallen. Schritte, hastig und kurz. Dann ein dumpfer Schlag.

Und Stille, unheilvoll und vollkommen.

Für einen Moment hielten die Schatten den Atem an. Dann setzte draußen wieder Musik ein, als wäre nichts geschehen. Nur ich wusste: Etwas war gerade zu Ende gegangen – und vielleicht auch etwas begonnen.

Ich erreichte die Küche, als Ulaf den benommenen Mann gegen den Schrank presste. Der Mann versuchte sich loszureißen, trat um sich, fauchte etwas Unverständliches – doch Lirael war schneller. Sie warf einen Bindeschatten über ihn, während ich mein Bannzeichen wirkte. Noch in der Bewegung sackte er zusammen, schlaff wie ein nasser Umhang. Der Ring – ein magischer Fokus – wurde ihm abgenommen. In seinem Ärmel fand Ulaf einen Hohlgriffel aus Kupfer, gefüllt mit der gleichen Substanz wie im Krug.

„Er hatte noch mehr von dem Zeug dabei,“ sagte Ulaf und hielt mir ein kleines, mit einem Wachszeichen versiegeltes Fläschchen entgegen. „Und ein Pergament mit Namen. Der Zunftmeister von Skara Brae stand ganz oben – fein säuberlich unterstrichen.“

Ich spürte, wie sich meine Schultern anspannten. Noch ein Feind im Schatten, noch eine Spur, die zu folgen lohnte – aber nicht in diesem Moment.

Ich nickte langsam. „Zunächst feiern wir weiter. Und später frage ich, wer ihn geschickt hat. Aber nicht mehr heute. Heute gehört den Gästen, dem Licht, dem Klang und dem Vertrauen.“ Wir banden den Mann sauber, mit Seil und einem kleinen Zauber, der die Glieder schwächte, ohne zu schaden. Lirael und Ulaf trugen ihn in den Lagerraum, wo wir ihn unauffällig einsperrten. Die Tür war alt, aber das Schloss vertrauenswürdig. Niemand sollte ihn dort vermuten – nicht heute Nacht.

Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, trat zurück und zog die Küchentür leise hinter mir zu. Das Gelächter der Gäste schwoll an wie eine Welle. Und zum ersten Mal an diesem Abend hatte ich das Gefühl, dass unser Licht weit genug strahlte, um den Schatten zu trotzen – wenn auch nur für diesen einen, kostbaren Augenblick. Ich sah hinüber zu Melion, der gerade mit einer halben Drehung in den Abschluss seiner Darbietung glitt. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Ich nickte kaum merklich. Und er verneigte sich noch ein Stück tiefer.


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Es war früher Morgen, als der letzte Gast ging. Der Duft von Braten in der Luft war längst verflogen, war müde geworden, wie alles in diesen Räumen. Die Kerzen brannten herunter, einige flackerten nur noch schwach, und auf dem Boden lagen verstreute Krümel, ein zerbrochener Löffel und eine einzelne, goldene Feder aus dem Hut irgendeines Gastes. Ich hatte eigentlich vorgehabt, bis zum Vormittag zu schlafen, zumindest ein paar Stunden, aber ich blieb sitzen. Am Kamin. Wach. Wartend.

Melion trat zu mir, leise, wie ein Gedanke, der schon länger im Raum war.

„Jetzt ist die Stunde. Wir sollten reden.“

Ich nickte. Worte waren nicht mehr nötig. Ich rief nach den anderen, und kurz darauf fanden wir uns im Lagerraum ein. Der Attentäter saß bereits, gefesselt, doch aufrecht. Die Haltung eines Profis, das Gesicht wie aus Stein. Aber seine Finger rieben sich unbewusst. Immer wieder.

„Also…“ sagte ich ruhig, „Euer Ziel war ein Zunftmeister. Vielleicht auch mehrere. Warum?“

Er blickte mich an. Lange. Zu lange. Seine Lippen verzogen sich leicht, als wollte er lächeln, aber es blieb bei einer angedeuteten Grimasse. „Ihr glaubt wohl, ich sage einfach, was ihr hören wollt? Dass ich einknicke wie ein Lehrling vor seinem Meister?“

„Wir glauben, dass ihr nicht wisst, worauf ihr euch eingelassen habt“, erwiderte Melion aus dem Schatten heraus, die Stimme ruhig, fast freundlich. „Und dass euch längst klar ist, dass ihr alleine seid.“

„Und Ihr überschätzt, was Ihr gewinnen könnt. Ihr habt keine Vorstellung davon, mit wem Ihr euch anlegt.“ Seine Stimme war ruhig, kalt, fast zu kontrolliert. „Ich bin nur ein Bote. Einer, der ein Messer trägt, wenn andere reden. Ich habe schon Schlimmeres überstanden als euch,“ knurrte der Mann. „Ich bin kein Dummkopf. Ich weiß, wie man redet – und wann man schweigt.“

Doch während er sprach, sah ich, wie seine Hände unbewusst an der Kante des Stuhls rieben. Ein Finger zitterte leicht. Seine Worte wirkten wie auswendig gelernt – sein Blick jedoch war rastlos.

„Wer hat euch geschickt?“ fragte ich leise. Ich hob keine Stimme, drohte nicht. Ich stellte nur eine Frage – und ließ die Stille dahinter länger stehen, als es angenehm war.

Es war nicht viel nötig, ein fester Blick, die beiläufige Offenbarung, das mir Magie innewohnte und etwas Beharrlichkeit. Er hatte geglaubt, er könne uns mit Haltung beeindrucken. Dass wir ihn mit Drohungen überziehen würden. Stattdessen warteten wir. Und warteten. 

Seine Haltung brach nicht sofort. Es war eher ein langsames Einsinken – wie ein Zelt, dessen Seile einer nach dem anderen reißen. Die Schultern sackten, die Augen verloren ihre Härte.

„Der Auftrag war einfach,“ sagte er schließlich, die Stimme nun leiser, rauer. „Chaos stiften. Ruf zerstören. Die Taverne sollte untergehen. Wie damals.“

„Wie damals?“ Ich trat näher. „Ihr kennt also die Geschichte … von dem, was einst an diesem Ort stand?“

„Nicht genau“, murmelte er. „Nur, dass es schon einmal eine Taverne gab. Hier. Und dass sie gestürzt wurde. Dass jemand… jemand sicherstellen will, dass es nicht wieder geschieht. Oder dass niemand es je wieder versucht.“

Er lachte. Kurz. Trocken. „Ich dachte… ich dachte, es ginge nur um Einschüchterung. Um… Druck. Dass ihr aufgebt. Dass die Gäste fliehen. Dass ihr den Mut verliert. Ich sollte eine Kette in Bewegung setzen. Der Rest würde von selbst geschehen.“

Er sah auf den Boden. Die Maske war gefallen. Kein Profi mehr. Nur noch ein Mann mit Angst in den Augen.

„Ihr werdet ausgeliefert“, sagte Ulaf ruhig. „Nicht an die Zunft. An die Stadtwache. Und sie wird wissen wollen, wer euch bezahlte.“

Der Mann nickte, zu müde für Widerstand. Doch irgendetwas in seinem Blick verriet: Dies war nicht das Ende. Nicht für ihn. Und nicht für uns.

Wir verschlossen ihn wieder im Lager, sauber verborgen, wie einen Geist, der noch nicht losgelassen hatte. Ich versiegelte die Tür mit einem einfachen Bann, kaum sichtbar, aber wirkungsvoll. Einem Fremden würde sie wie eine gewöhnliche Lagertür erscheinen – doch jeder Versuch, sie zu öffnen, würde ein Flüstern wecken, das nur wir vernahmen. Der Attentäter schlief, oder tat zumindest so. Seine Fäuste lagen offen, der Kopf zur Seite gesunken. Doch ich sah, dass er wach war. Das Zittern seiner Finger hatte nicht nachgelassen.


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Dann begannen die anderen damit aufzuräumen. Nicoletta sammelte Gläser mit sicherem Griff, prüfte jedes auf Sprünge und sortierte sie auf einem Tablett, das sie erstaunlich ruhig balancierte. Lirael rollte Tischdecken zusammen, ordnete sie säuberlich, murmelte dabei leise Reime, die wie eine magische Inventur klangen. Ulaf schimpfte halblaut über zerbrochenes Geschirr, das sich nicht anständig stapeln ließ, und ließ sich schließlich auf einen Schemel nieder, um die Scherben in einen alten Zwirnbeutel zu sammeln. Melion hingegen trug die leeren Flaschen mit theatralischem Ernst in den Hof, wobei er jedes Klirren mit einem dramatischen Seufzer begleitete, als spiele er auf einer unsichtbaren Bühne.

„Die letzte Symphonie der Flaschenklänge“, murmelte er. Lirael schnaubte nur und schüttelte den Kopf.

Ich blieb sitzen. Der Kamin knisterte leise, als wolle er mir Gesellschaft leisten. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, legte mein Notizbuch auf den Tisch. Die Feder war stumpf. Es war ein alter Federkiel, aus dunklem Gänseflug, den ich seit Jahren benutzte. Ich nahm mir Zeit, löste die alte Spitze vorsichtig mit der Messerklinge, schabte die Reste sauber ab und schnitt mit ruhiger Hand eine neue. Das kleine Messer, dessen Griff ich einst in Minoc hatte verzieren lassen, lag vertraut in meiner Hand, wie ein Werkzeug der Erinnerung.

Dann schrieb ich:
Er dachte, er hätte die Taverne damals zerstört. Diesmal wird er zusehen müssen, wie sie wächst. Wie sie Wurzeln schlägt in Stein und Staub, wie sie sich erhebt aus dem, was er für Asche hielt. Und er wird nicht verstehen, dass genau das seine größte Niederlage ist. Denn er rechnete mit Furcht, mit Rückzug, mit Aufgeben. Doch was er säte, war Entschlossenheit.
Darunter:
Ich werde nicht mehr nur warten. Ich werde planen. Ich werde handeln. Ich werde standhalten – für jene, die an mich glauben. Und für jene, die es noch nicht tun.
Und in Gedanken setzte ich noch einen Satz darunter – einen, den ich noch nicht zu Papier bringen wollte:

Ich kenne meinen nächsten Schritt. Und ich werde ihn nicht allein tun. Ich weiß, wo ich beginnen muss. Und wer bereit sein wird, mit mir zu gehen.
Bareti
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Zwischenspiel IV – Der sechste Versuch – und endlich: Die Geburt der Hausmarke

Beitrag von Bareti »

„Die Magie im Fass – und das Vertrauen ins Ergebnis“
Von Planung, Geduld und dem Mut zur Magie
Die Taverne roch nach Apfel, Hefe und einem Hauch von angekohltem Rosmarin und Salbei. Nicht von ungefähr. Der sechste Versuch war keine spontane Eingebung mehr, kein tastender Schritt ins Ungewisse – er war das Ergebnis von Studien, Misserfolgen und leiser Entschlossenheit. Ich hatte inzwischen verstanden: Äpfel brauchen Zeit. Gärung braucht Raum. Und Most braucht Geduld. Magie konnte helfen, ja – aber nur, wenn sie dem Werk diente, nicht es überlagerte. Sonst wurde es Wein mit Allüren – und keine Hausmarke.

Diesmal war alles vorbereitet. Die Äpfel kamen endlich aus dem Hain der Taverne. Nicht alle, aber einige – die ersten reifen Früchte, die dieser Boden unter meinen Händen hervorgebracht hatte. Ich pflückte sie selbst, fast ehrfürchtig, und behandelte sie wie etwas Altes, das neu geworden war. Die anderen ergänzte ich mit einer säuerlichen Sorte vom Markt und einer fast honigsüßen von Ulaf, der nur sagte: „Die wachsen auf Umrazims Rücken. Frag nicht.“

Der Zwerg hatte angefangen, regelmäßig Äpfel vorbeizubringen. Sagte nie, woher sie stammten. Ich fragte nie zweimal. Ich nahm sie einfach an – wie das Leben manchmal selbst die seltsamsten Zutaten schickt, ohne Etikett. Und jedes Mal, wenn ich sie in die Hand nahm, spürte ich eine Ahnung davon, wie wenig wir wissen über Herkunft, Reife und das, was wirklich zählt.

Ich legte die Mischung aus Früchten für mehrere Tage in ein rundes Becken, das ich mit einer Rune versiegelt hatte. Sie beschleunigte die Reifung – nicht durch Illusion, sondern durch Verstärkung dessen, was ohnehin angelegt war. Kein Zeitraffer, kein Beschleunigungsfeld, kein Zerren. Nur ein sanftes Nachhelfen, wie ein warmer Sonnenstrahl im Morgengrauen.

Dann zerteilte ich die Äpfel und presste sie in langen, ruhigen Bewegungen. Ich ließ den Saft durch ein feines Tuch laufen, das Lirael mir einst aus den Händen der Elfen gebracht hatte. Es war so dicht gewebt, dass es nicht nur Schwebstoffe, sondern auch Zweifel herauszufiltern schien. Ich fügte eine winzige Menge Holunder und Malvenblüten hinzu – beides vorsichtig gemessen, nicht aus Rezept, sondern aus Gefühl. Der Duft, der dabei entstand, erinnerte mich an Geschichten in denen Tränke nicht gebraut, sondern geboren wurden.

Das Fass, das ich wählte, war alt. Kein Eichenfass aus dem Handel, kein Brandyfass mit Nachgeschmack, kein Metall. Es war ein Holzfass, das ich in der hintersten Ecke der Werkstatt gefunden und tagelang geschrubbt hatte, bis es nicht mehr nach Staub, sondern wieder nach Holz roch. Ehrlich, rau, trocken. So wie der Most sein sollte. Ich befüllte es langsam, ließ den Saft in einem ruhigen Strahl hinabrinnen, als hätte ich Angst, ihn zu wecken.

Ich legte meine Hände auf den Rand und murmelte den Zauber *Lux Pomari*. Diesmal war er fast flüsternd. Keine sichtbare Magie, nur das leichteste Flackern, ein Streifen Licht, der sich über die Oberfläche des Saftes legte. Ich stellte sicher, dass keine Verunreinigungen eindrangen – nicht durch Menschenhand, nicht durch Wind, nicht durch Zweifel.

Und ich segnete den Gärprozess mit einem einzigen Wort. „Werde“, sagte ich. Nichts weiter. Es war weniger ein Befehl als ein Wunsch, weniger Magie als Vertrauen. Dann wartete ich.

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Die Gärung & die Bindung
Drei Tage später begann das leise Gluckern. Eine Woche später roch es nach Apfel, Hefe – und etwas, das ich nicht benennen konnte, aber das nach Zuhause klang. Es war nicht der Geruch eines Getränks, sondern eines Versprechens. Ein Versprechen, das nicht laut wurde, aber anklang, wenn man lange genug lauschte. Ich ging oft in den Lagerraum, stellte mich davor, sagte nichts. Lauschte nur. Als würde ich mit einem werdenden Wesen sprechen, das Antwort geben konnte – wenn auch nur in Blasen. Die Luft war warm, schwer von Erwartung, durchzogen von einem Hauch feuchter Holznoten. Manchmal glaubte ich, die Gärung atmen zu hören. 

Ich hielt mich zurück, rührte nichts an, veränderte nichts. Ich hatte gelernt: Magie war kein Ersatz für Vertrauen. Und Vertrauen hieß manchmal, still zu sein.

Dann erst, in der Mitte des Prozesses, begann ich, den leichten Zauber der Erinnerung zu binden – jenen Hauch, der aus einem Getränk ein Gefühl machen sollte. Frühere Versuche hatten gezeigt, dass zu frühe Magie die Gärung verdarb, zu späte sie wie einen Hammer wirken ließ. Jetzt wählte ich den richtigen Moment. Es war ein stiller Vormittag, das Licht fiel in einem klaren Winkel durch das Fenster, und ich wusste, jetzt war es so weit. Ich verankerte nicht eine Szene, sondern eine Stimmung: das erste Mal, als ich das Licht der Morgensonne auf dem Apfelhain sah. Die Art, wie es zwischen den jungen Zweigen spielte, wie es Hoffnung in ein Stück Erde goss. Es war kein klares Bild – aber ein Gefühl, das trug. Ich murmelte die Bindung, leise, mit der linken Hand auf dem Fass. Und ich glaubte, der Most hätte für einen Moment ganz still dagestanden – als lausche auch er.

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Das Ergebnis
Zwei Wochen später filterte ich einen ersten Krug, erneut mit dem Tuch der Elfen. Ich schenkte mir ein Glas ein. Betrachtete es gegen das Licht. Der Most war nicht goldgelb wie sonst. Er war klar. Türkis. Und er schimmerte – nicht vor Magie, sondern vor Reinheit. Keine Trübung, kein Satz, kein Flackern. Nur Klarheit. Es war, als hätte das Getränk selbst beschlossen, kein Geheimnis mehr zu haben.

Ich trank. Zunächst nur einen kleinen Schluck. Und ich sagte nichts. Ich konnte nichts sagen. Ich trank weiter. Der Effekt war anders als zuvor. Keine Erinnerung wurde wach. Keine Szene. Kein altes Bild. Stattdessen fühlte ich. Wärme. Sehnsucht. Vertrauen. Der Geschmack löste keine Gedanken aus – er entließ sie. Die Gefühle kamen aus mir, aber sie waren wie befreit. Als würde der Most nicht erinnern, sondern Raum schaffen für das, was längst in mir wohnte.

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Ich trank ein zweites Glas. Und dann ein drittes – nicht aus Zweifel, sondern aus Staunen. Der Most schmeckte, als wäre er nie etwas anderes gewesen als genau das, was ich gebraucht hatte. Es war ein Geschmack, der nicht erklärte, sondern verstand. Einer, der nicht aufforderte, sondern begleitete. Wie ein stiller Freund, der schon da ist, bevor man merkt, dass man ihn braucht.

Ich stand eine Weile am Tresen, das Glas in der Hand, ließ das Licht durch den Rest des Getränks tanzen und beobachtete, wie sich selbst das letzte bisschen Flüssigkeit noch in schimmernden Linien bewegte – als würde auch der letzte Tropfen noch etwas sagen wollen. Ich dachte an all die Versuche zuvor, an das, was ich lernen musste, an das, was ich loslassen musste. Und ich wusste: Dies hier war nicht das Ende der Suche, aber es war ein Punkt, an dem ich zum ersten Mal innehielt, ohne weiterhetzen zu wollen.

Am Abend stand Ulaf an der Theke. Ich stellte ihm ein Glas hin, kommentarlos. Er nahm es, schnupperte, trank. Sagte nichts. Dann sah er mich an. Es war kein harter Blick, aber auch kein weicher. Eher einer von der Sorte, mit der Zwerge Türen mustern, die sich unerwartet öffnen.

„Das ist… trinkbar.“

Ich wusste, was das bedeutete. Ich grinste.

„Du meinst: gut?“

Er schob das leere Glas zurück. „Noch eins.“

Ich schenkte nach. Und diesmal trank ich mit. Ohne Worte. Nur mit einem Nicken – und der leisen Hoffnung, dass das, was hier begann, bleiben durfte.

Abschlussprotokoll – Sechster Versuch (Hausmarke – vorläufig: „Lichtmost“)
Am späten Abend, nachdem der letzte Tropfen abgefüllt war und die Gläser gespült, die Tücher getrocknet und das alte Fass sorgsam gereinigt auf die nächste Gärung wartete, setzte ich mich mit meinem türkisfarbenen Notizbuch und einem Glas des neuen Mosts an den Tisch, der noch nach Most, Rauch und einem Hauch Malve roch, und schrieb:
Formelstatus: Erste eigenständige Komposition einer stabilen, wiedererkennbaren Hausmarke erfolgreich abgeschlossen.
Komponenten:
  • Apfelmischung aus drei Hauptquellen:
    – Reife Früchte des eigenen Hains (lokale Herkunft, erstmals verarbeitet)
    – Marktware mit ausgewogenem Säureprofil
    – Süßaromatische Umrazim-Apfelvariante (nicht näher klassifiziert)
  • Zusätze in geringen Mengen: Holunderblüten (florale Tiefe), Malvenblätter (sanfte Milde & klare Färbung)

Verarbeitung & Magieeinsatz:
  • Kein Einsatz klassischer Zeitmagie
  • Gezielte Förderung natürlicher Reifung mittels strukturverstärkender Runen
  • Filtration durch hochdichtes Elfengewebe zur Sicherstellung maximaler Klarheit
  • Kontrollmagie via *Lux Pomari* – bewährt, besonders in der späten Gärphase

Erinnerungsverankerung:
  • Erfolgreich eingebracht in der mittleren Reifung
  • Wirkung subtil: keine visuellen Rückblenden oder Szenen, sondern emotionale Atmosphäre (Sanftheit, Offenheit, Entspannung)
  • Ziel: Entlastung statt Projektion – wurde erreicht

Sensorische Eigenschaften:
  • Farbe: klares Türkis mit feinem magischen Schimmer
  • Geruch: fruchtig (Apfel) mit Holundernote
  • Geschmack: balanciert, komplex, nachhaltig
  • Alkohol: geschätzt moderat – entspannend, nicht benebelnd

Atmosphärische Beobachtungen:
  • Wahrnehmbare Veränderung der Raumwirkung bei Konsum
  • Rückkopplung zwischen Getränk und Umgebung wahrscheinlich – erste Anzeichen magischer Raumresonanz
  • Empfehlung: weitere Analyse mit Fokus auf Affinitätseffekte

Subjektive Rückmeldung:
  • Ulaf zeigte positive Reaktion (Nachbestellung ohne Kommentar)
  • Persönliches Fazit: Erstmals Gefühl, dass der Most nicht nur gelungen, sondern *meiner* ist
  • Die Taverne hat ihre Handschrift – ich ebenfalls

Offene Forschungsfragen:
  • Reproduzierbarkeit unter variablen Bedingungen?
  • Fruchtlagerung vs. Frischverarbeitung – Auswirkungen auf Geschmack und Magiebindung?
  • Entwicklung eines haltbaren Konzentrats denkbar?
  • Fassfrage: weitere geeignete, unbehandelte Holzgefäße auffindbar?

Nächste Schritte:
  • Analyse bzgl. Alkoholgehalt, Restzucker, magischer Stabilität
  • Etikettendesign entwerfen
  • Namensgebung: Vorschlag Lichtmost zur Diskussion stellen – wegen seiner Wirkung: nicht Erinnerung, sondern Raum zur Erinnerung

Archivhinweis: Obwohl der Most ein voller Erfolg war – oder gerade deshalb –, wurde ein weiteres kleines Fass zu den bisherigen gestellt. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Respekt vor dem Prozess. Auch dieser Moment gehört dokumentiert.
Bareti
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Re: Besen, Bier & Barrieren – oder: Wie ich aus Versehen eine Taverne gründete

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Episode XIV
„Laterne, Liste & leiser Zorn – oder: Wie wir entschieden, standzuhalten“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit Rückgrat, Runen – und keiner Furcht vor Flammen

Ich saß am Tresen, vor mir ein Becher Tee, dampfend und halb vergessen. Meine Finger ruhten auf dem türkisfarbenen Notizbuch, das ich seit jenem ersten Morgen in Moonglow nie aus den Augen verloren hatte. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen selbst Gedanken schweigend wurden, nur begleitet vom leisen Rieseln der Sandkörner in der alten Sanduhr auf dem Sims am Kamin.

Wir hatten heute aufgeräumt. Nicht nur mit Besen und Eimer, sondern auch in den hintersten Ecken und den obersten Regalen. Die Dinge, die man aufschob. Die Dinge, die warteten. Mittlerweile waren vier der Gastzimmer voll hergerichtet und da Nicoletta eins dauerhaft bezogen hatte, standen drei für Notfälle zur Verfügung. In der kleinen Kammer über der Schankstube, zwischen alten Decken, zerkratzten Spiegeln, verstaubten Kräuterbündeln und leeren Glasflaschen, hatte ich eine Schriftrolle gefunden – meine eigene Handschrift, eindeutig, aber von einer Zeit, die nie hätte sein sollen. Eine Zeit nach dem Bruch. Eine Erinnerung, die nicht sein durfte. Ein Fragment aus der Zukunft, die niemals war.
„Nathanael, wenn du das liest... dann bin ich nicht mehr dort, wo ich einst war. Du warst mein Schüler. Und ich hoffe, du wirst es wieder sein.“
Ich las die Zeilen mehrmals. Nathanael. Der Name hallte in mir wie ein lang vergessenes Lied. Das war der Name meines einstigen Schülers gewesen! Ein Gesicht, ein Lachen, eine Stimme – alles kam in verschwommenen Konturen zurück. Kein Zauber war in der Schriftrolle verborgen, kein runengebundenes Wissen. Nur Worte, voller Wärme. Und Trauer. Worte, die keinen Zauber brauchten, um tief zu wirken. Ich wusste nicht mehr, wann ich sie geschrieben hatte. Oder warum. Aber ich wusste, dass sie echt waren. Echtheit hatte einen Geruch. Den von Tinte, altem Pergament und der Spur eines Gefühls, das nicht vergeht.

Ein leiser Schauder lief mir über den Rücken. Nicht aus Angst, sondern weil etwas in mir zum ersten Mal seit Langem wieder an die Möglichkeit glaubte, dass Erinnerungen mehr waren als bloße Vergangenheit. Vielleicht war da ein Rest von Magie, nicht in der Schrift, sondern im Umstand ihres Wiederfindens. Vielleicht war dies der richtige Moment, sie wieder in die Hand zu nehmen. Vielleicht, dachte ich, war dies ein Fingerzeig – nicht aus der Vergangenheit, sondern von dem, was ich beinahe geworden wäre.

Langsam erhob ich mich, trat zum Schild an der Wand – der alte Kraken, über den ich längst zu lächeln gelernt hatte. Daneben lehnte wie immer mein Stab. Auf dem Sims unter dem Kraken lagen die vergessene Harfe, die Laterne, die Sanduhr, die Kräuter und der Schmiedehammer. Ich strich mit der freien Hand sacht über den Holzrahmen der Harfe und verharrte einen Moment vor der Sanduhr, deren feiner goldener Sand langsam nach oben trieb, wie kleine Teilchen in Wasser. Wie oft hatte ich versucht, die Zeit zu halten? Wie oft war sie mir entglitten? Jeder Gegenstand dort war mehr als Dekor – er war Teil einer Geschichte. Und heute, so spürte ich, würde sich ein weiteres Kapitel dazu gesellen.

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Ich wollte gerade die Schriftrolle in mein Notizbuch zurücklegen, als die Tür aufgestoßen wurde.

Nicht langsam. Nicht vorsichtig. Sondern mit der Entschlossenheit eines Gewitters. Lirael stand in der Tür, atmend wie nach einem Sturmlauf, das Haar zerzaust, ihr Blick wild. Hinter ihr peitschte der Wind ein paar welk gewordene Blätter über die Schwelle – das Einzige, was sich zu trauen schien, ihr zu folgen.

Die Geräusche ihrer Schritte hatten nicht einmal Zeit gehabt, die Dielen zu warnen – so plötzlich, so unmittelbar stand sie da. Eine Elfe, gezeichnet von Wind und Wissen, mit Blättern im Haar und dem Echo des Laufs noch in den Augen.

„Bareti!“ – Der Ruf war kein Hilferuf, sondern ein Alarm. „Sie kommen. Heute. Noch vor Mitternacht. Ich habe ihn gehört – er hat genug. Sie wollen alles niederbrennen.“

Ein Schlag in die Magengegend wäre weniger heftig gewesen. Doch ich blinzelte nur ein einziges Mal, dann war ich schon in Bewegung. Der Tee blieb dampfend zurück, wieder einmal. Seine Wärme war noch da, aber die Ruhe, die er spenden sollte, hatte sich verflüchtigt.

„Nicoletta! Ulaf! In die Küche!“, rief ich, während ich Lirael mit einer knappen Geste bedeutete, mitzukommen. Die Worte hallten nicht laut, aber bestimmt durch den Raum – und der vertraute Klang von Anspannung wich in der Taverne einem flinken Geräusch von Stühlen, die zurückgeschoben wurden. Alles wurde plötzlich sehr klar, sehr echt. Kein Platz für Zweifel, kein Platz für Erklärungen.

In der Küche roch es nach Most und warmem Brot, wie an den besten Tagen – eine trügerische Erinnerung an Frieden. Doch an diesem Abend wurde kein Teller mehr angerichtet, keine Kelle mehr geschwungen. Nicoletta hatte bereits ihre Ärmel hochgekrempelt, ihre Hände ruhten auf der Kante des Tisches wie auf dem Griff eines Werkzeugs, bereit. Ulaf zog sich wortlos einen Gürtel mit Werkzeug über – nicht zum Bauen, sondern zur Verteidigung. Es war ein Gürtel, den ich zuvor nur gesehen hatte, wenn er tief in den Minen unterwegs gewesen war. Der Hammer daran war kein Symbol. Er war Werkzeug. Und Waffe.

Lirael stellte sich nahe an den Herd, spannte die Schultern, als wollte sie sich mit der Dunkelheit da draußen messen. Ihre Augen funkelten nicht vor Angst, sondern vor Entschlossenheit. Ich kannte diesen Blick. Ich hatte ihn in anderen Zeiten gesehen, in anderen Kriegen. Damals war ich keine Wirtin gewesen.

Niemand stellte Fragen. Nicht mehr. Es war, als hätte das Knarren der Tür vorhin nicht nur Lirael eingelassen, sondern auch etwas geweckt, das wir alle zu lange ignoriert hatten: den Willen, zu bleiben. Nicht nur zu überleben, sondern etwas zu schützen. Nicht aus Pflicht. Aus Zugehörigkeit.

Noch bevor ich die ersten Anweisungen geben konnte, fiel mein Blick auf zwei Gäste am Ende des Raumes – ein alter Mann mit schütterem Haar und ein junges Mädchen, das aussah, als hätte sie sich hier nur vor dem Regen versteckt. Sie hatten sich unauffällig verhalten, kaum gesprochen, aber jetzt war nicht der Moment für Beobachter oder Unbeteiligte, die zu schaden kommen könnten.

„Verzeiht, liebe Gäste“, sagte ich und trat einen Schritt näher, die Stimme sanft, aber bestimmt. „Ich fürchte, die Taverne wird heute Nacht nicht die sichere Zuflucht sein, die sie zu sein verspricht. Wir haben von einem drohenden Angriff erfahren – ich kann euch nicht in dieser Gefahr lassen.“

Der Mann hob die Brauen, doch ich hob beschwichtigend die Hand. „Es richtet sich nicht gegen euch, aber wir müssen vorbereitet sein, und das bedeutet, jeden zu schützen – auch, indem wir euch bitten, zu gehen.“

Das junge Mädchen neben ihm wirkte einen Moment lang, als wolle sie widersprechen, doch sie senkte den Blick und nickte. „Dann danke ich für den Schutz bis hierhin“, flüsterte sie.

„Nehmt bitte eure Mäntel und geht durch die Seitentür beim Kräutergarten“, fuhr ich fort. „Haltet euch nicht auf und sagt niemandem, dass ihr heute Abend hier wart. Es ist besser so – für euch nicht für uns.“

Nicoletta trat neben sie, freundlich, aber bestimmt, und reichte dem Mädchen den Mantel. „Kommt, ich bring euch hinaus. Der Weg ist trocken – ich habe ihn vorhin noch selbst gestreut.“

Sie gingen, leise, beinahe ehrfürchtig. Keine weiteren Fragen, kein Rückblick. Nur ein letzter Blick des alten Mannes, ein kurzer, fester, der mehr sagte als Worte.

Ich sah ihnen nach, bis sich die Tür wieder schloss.

Dann drehte ich mich wieder um.

„Sie kommen nicht, um zu verhandeln“, sagte ich, während ich das Notizbuch aufklappte. „Und sie werden uns nicht noch einmal überraschen.“

Der Plan entstand nicht aus einem Guss, sondern aus vielen Stimmen: Lirael kartierte schnell mögliche Zugänge und nannte Stellen, an denen der Feind sich am wahrscheinlichsten nähern würde. Nicoletta organisierte die Versorgung, Ulaf aktivierte magische Schwellen und Schutzsteine – Reste alter Zwergenrunen, kombiniert mit meiner Magie. Die Taverne war kein Bollwerk, aber sie war auch kein Opfer.

Zugänge wurden gesichert, Fensterläden verstärkt, geheime Fluchtwege überprüft. Alte Truhen mit vergessenen Tränken wurden geöffnet, Pergamente entrollt, deren Siegel längst gebrochen waren. Jeder bereitete sich, als gäbe es kein Morgen – nicht, weil wir verzweifelt waren, sondern weil wir unsere Taverne schützen wollten. Jeder Gegenstand wurde geprüft, jede Tür zweimal verschlossen, jede Flasche begutachtet. Nicoletta hatte sogar einen Hocker zerschlagen, nur um sicherzugehen, dass sich kein Spion darin verkrochen hatte – halb im Scherz, halb im Ernst. Selbst der Boden wurde nach alten, kaum sichtbaren Runenmustern abgesucht.

Ich selbst beschwor Elementare, nicht um zu kämpfen, sondern um dem Feuer zu helfen. Ich ließ Wasserelementare in das Dach kriechen, damit sie dort warteten und auf Brandsätze reagierten. Erdelementare verankerte ich an den Außenwänden – sie sollten verhindern, dass jemand uns in den Rücken fallen konnte, sollten Stein und Lehm festigen. Niedere Luftelementare ließ ich zwischen die Querbalken des Dachstuhls gleiten, wo sie auf züngelnden Rauch reagieren konnten. Ihre Bewegungen waren kaum zu erkennen – ein Flackern im Staub, ein Wispern im Holz.

Zusätzlich platzierte ich eine Reihe kleiner, unscheinbarer Kristalle entlang der Fensterrahmen. Jeder von ihnen enthielt eine winzige magische Essenz – genug, um im Moment des Angriffs ein Echo zu senden, das mir ihre Position verriet. Ein Netz aus Wahrnehmung, fein wie Spinnfäden, aber bereit, jede Störung zu melden.

Schließlich, als alles vorbereitet war, zog ich ein weiteres, sorgfältig gefaltetes Pergament aus meiner Lade. Es war bläulich, an den Rändern mit feinem Goldstaub überzogen. Der Faden, mit dem ich es versiegelte, war türkis – genau wie mein Notizbuch. Und der Name auf dem Umschlag war: Aetherium.

Ich schrieb in klarer, fester Hand. Nicht um Hilfe zu bitten, sondern um zu berichten: „Ein Angriff steht bevor – heute Nacht. Durch fähige Ohren haben wir rechtzeitig davon erfahren. Unsere Gegenspieler haben versagt und wollen jetzt Feuer sprechen lassen. Wir bereiten uns vor. Die Pläne, über die wir zuletzt sprachen, müssen vorgezogen werden. Die Taverne wird nicht fallen – nicht, wenn wir das Morgen selbst mit formen.“

Dann legte ich den Brief in die Krallen eines Krähenboten, der im Dachstuhl genistet hatte – ein Vogel mit schimmerndem Gefieder, der nie gezähmt, aber oft gefüttert worden war. Ich hielt kurz inne, sah ihm in die Augen. „Flieg schnell. Und sei vorsichtig.“

Er flog in die Nacht hinaus, als wäre er schon immer unterwegs gewesen.

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Die Minuten zogen sich. Wir sprachen nur leise, unwillig in der Wachsamkeit nachzulassen. Die Laterne über dem Kamin glühte ruhig, so hell wie nie zuvor. Sie war unser stilles Signal – solange sie brannte, standen wir noch.

Nicoletta ging noch einmal durch den Schankraum, zählte ihre Schritte, prüfte die Sichtlinien. Sie markierte mit Kreide die Stellen, an denen die Sicht besonders gut war – und jene, wo wir uns verstecken konnten. Ulaf legte eine kleine Rune unter den Tresen, ihre Konturen glommen matt. Eine zweite klebte er an das Fenster zur Hofseite. „Für eine kleine Überraschung“, murmelte er. Lirael stand an einem Fenster mit guter Sicht, gespannt wie ihr Bogen. Ihre Augen bewegten sich kaum, so konzentriert war ihr Blick. Und ich? Ich saß nicht mehr, sondern stand, den Blick zur Tür gewandt, wie eine Statue aus Licht und Wille. Zumindest war das meine Hoffnung.

„Sie kommen“, sagte Lirael. „Über den Hauptweg, aber das werden nicht alle sein.“

Als der erste Pfeil das Fenster durchschlug, war niemand überrascht. Ich zuckte nicht. Ein Atemzug später folgte ein Krachen – ein Flammenwurf zerschellte an der Außenwand, ließ den Putz splittern und Flammenzungen auflodern. Nicoletta stürmte mit einem Eimer Sand zur Tür, warf ihn gegen die Flammen am Boden. Ihre Bewegungen waren schnell, entschlossen – nicht das erste Mal, dass sie in einer brenzligen Lage stand.

„Gesichert!“, rief sie. „Wir werden nicht nachgeben, keine Handbreit!“

Lirael antwortete mit einem Schuss aus ihrem Bogen – präzise, lautlos, tödlich. Der Pfeil durchbohrte das Fensterholz und ein dumpfer Laut ließ erahnen, dass er sein Ziel fand.

Ich hob langsam die Hand, wob arkane Kräfte um meine Mitstreiter, schloss sie ein in Netze aus Reflex, Schutz und Stärke. Nicolettas Bewegungen wurden fließender, Ulafs Sinne schärften sich sichtbar, Liraels nächste Pfeile flogen mit noch größerer Präzision.

Die Fensterläden barsten auf, als ein zweiter Feuerkrug zischend an der Außenwand explodierte. Rauch kroch durch die Ritzen, biss sich in Augen und Lungen. Ich schleuderte einen Windzauber zur Rückseite – nicht stark, aber genug, um den dichten Qualm aus dem Hauptraum zu drücken.

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Ulaf hatte sich neben dem Tresen in Stellung gebracht. In seiner Hand glomm ein Runenstein, der bei jedem Schritt eines Feindes vor der Schwelle kurz aufflackerte. „Sie sind zu dritt an der Westseite!“, rief er. „Und zwei im Hinterhof!“

Lirael reagierte schneller als ein Schatten. Ihre Pfeile flogen mit beängstigender Präzision durch die angelehnten Fensterläden. Ein dumpfer Schrei, dann Stille. Nur noch einer.

Ich hatte mich in die Mitte des Raums begeben, meine Hände zu beiden Seiten erhoben. Zwei magische Kreise flammten am Boden auf – einer direkt vor dem Fenster am Kamin, der andere unterhalb der Tür. Wer unachtsam eintrat, würde nicht weit kommen. Die Kreise summten, bereit zu greifen, bereit zu bannen.

Ein dumpfer Knall – die Außentür wurde aufgebrochen. Einer der Angreifer stürmte ins Lager, keuchend, mit einer brennenden Fackel wurfbereit in der Hand. Er sah sich nicht lange um. Doch Nicoletta war schneller: Mit einem Schwung der Küchenpfanne – aus schwerem Gusseisen – traf sie ihn am Hinterkopf. Der Mann sackte zusammen, die Fackel klirrte zu Boden.

„Verhört wird später!“, rief sie, und löschte die Flammen mit weiterem Sand. Dann schob sie einen Schemel vor die Tür, als ob er eine Barriere wäre – aber in ihren Händen schien selbst Holz zu gehorchen.

Ich konzentrierte mich erneut. Eine blaue Lichtkugel formte sich über meiner linken Hand und pulsierte im Takt meines Herzschlags. Als ein weiterer Angreifer durch das vordere Fenster sprang, schleuderte ich ihm die Kugel entgegen. Der Einschlag war lautlos – doch der Eindringling blieb reglos liegen. Eine zweite Kugel begann sich bereits zu formen.

„Wie viele noch?“, rief ich gegen den Lärm.

„Es werden nicht weniger!“, antwortete Lirael mit knapper Stimme. „Aber sie werden vorsichtiger.“
Bareti
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Feuer, Feder & Fundament – oder: Wie wir uns den Boden zurückholten.

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Episode XV
„Feuer, Feder & Fundament – oder: Wie wir uns den Boden zurückholten.“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit klarem Verstand – und wenig Geduld für Übergriffe.

Die Nacht hatte sich wie ein dunkles Tuch über das Land gelegt, schwer vom Rauch, durchzogen vom Glanz lodernder Flammen. Die Taverne brannte nicht – noch nicht. Doch ringsherum züngelten Feuerzungen an Holz und Heu, entzündet von Feinden, die mehr wollten als nur Rache: Sie wollten Auslöschung. Die Fensterläden klapperten im heißen Wind, und die Schatten der Angreifer tanzten über die feuchten Pflastersteine wie drohende Geister. Es war ein Angriff auf alles, wofür wir standen – und wir wussten es.

Lirael war die Erste, die geantwortet hatte. Lautlos, wie ein Schatten, hatte sie sich aufs Dach geschwungen. Zwischen zwei der alten Querbalken kauerte sie, der grüne Umhang halb über das Gesicht gezogen. Ihre Bewegungen waren fließend, jeder Atemzug kontrolliert. Ihre Pfeile flogen wie Gedanken: schnell, zielsicher, still - nur das dumpfe Aufprallgeräusch kündete vom Ende ihrer Reise. Ein Gegner taumelte, ein zweiter sank mit einem Pfeil in der Kehle zu Boden. Von oben konnte sie das gesamte Geschehen überblicken – sie war unser Auge im Dunkel.

Unten, bei der Hintertür, stand Ulaf. Breitbeinig, mit glimmendem Hammer und der Erde unter seinen Sohlen. Ein schwerer Wagen – offenbar als Rammbock gedacht – rollte auf ihn zu, geschoben von zwei dunkel verhüllten Gestalten. Der Zwerg schnaubte, hob den Hammer, und als er auf den Boden krachte, zersprang der Stein unter seinen Füßen – wuchtige Splitter schnellten hervor, trafen die Angreifer wie Speere. Der Wagen ächzte, fiel zur Seite. "Bei den bärtigen Adern der Tiefen – nicht mit mir!", grollte Ulaf, während sich der Boden ringsum aufzuwölben schien. Der Zwerg ließ seinen Hammer kreisen, und jedes Mal, wenn er zuschlug, bebte die Welt ein wenig mehr. Zwei weitere Angreifer, die aus dem Schatten traten, wurden von herausschießenden Steinplatten zu Boden gerissen. Er war nicht nur ein Krieger – er war ein Bollwerk.

Ich stand am Eingang, das türkisfarbene Notizbuch in der einen Hand, den alten Stab in der anderen. Die Entscheidung war längst gefallen – und sie fühlte sich an wie ein Versprechen an mich selbst. Ich murmelte die Worte, die ich lange vermieden hatte, Worte aus einem anderen Leben. Der Zauber floss nicht aus dem Stab, sondern aus mir. Eine schimmernde Kuppel aus türkisfarbenem Licht wölbte sich empor, wogte über die Tür hinweg, ließ Pfeile in der Luft zersplittern und Hitze verpuffen. Die Schutzsphäre summte in meinen Ohren, als würde sie meine Gedanken hören.

Ich schloss das Notizbuch und steckte es eilig weg. Die jetzt freie Hand ballte zur Faust und lenkte die gesammelte Kraft in die Spitze meines Stabs. Der zweite Zauber formte sich, schneller, rauer: eine Druckwelle, verdichtet wie eine Faust aus Luft. Ich schleuderte sie auf das Nebengebäude zur Rechten – dort, wo sich schemenhafte Gestalten mit Bögen verbargen. Die Explosion war dumpf, holzig, und hallte durch die Ebene. Zwei Körper wurden fortgeschleudert, einer stürzte vom Dach, der andere blieb reglos liegen. Der Rauch sog sich zusammen, zog sich zurück wie ein erschrockener Zeuge.

Nicoletta hatte sich neben mich gestellt. Der Bogen in ihrer Hand wirkte fast fehl am Platz – doch nur für einen Augenblick. Der erste Pfeil verfehlte, der zweite traf, der dritte brachte einen der Angreifer zu Fall. Dann krachte ein Fenster, ein dunkler Schatten sprang durch das zerborstene Holz, und Nicoletta war plötzlich eine andere. Mit einem Ruck zog sie ein Kurzschwert aus dem Gürtel, bewegte sich geschmeidig, entschlossen, und parierte den Hieb des Eindringlings mit einer Drehung, die an Übung erinnerte. Ein Schnitt, ein Tritt, ein sauberer Hieb. Blut spritzte, der Angreifer wich zurück.

„Du hast den falschen Ort gewählt“, sagte sie leise. Es war mehr als nur eine Drohung. Es war ein Schwur. Und in diesem Moment, im flackernden Licht der brennenden Fässer, sah ich in ihrem Blick dieselbe Entschlossenheit, die mich antrieb.

Der Kampf war entbrannt – nicht nur um Steine, Holz und Glas. Sondern um das, was wir alle hier gefunden hatten: einen Ort, der zählte.

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Die Angreifer sammelten sich neu. Offenbar hatte jemand unter ihnen die Führung übernommen, denn ihre Bewegungen wurden strukturierter. Zwei Gruppen begannen gezielt, den oberen Stock anzuzünden – sie warfen Pechkrüge, zerschlugen Fenster, hielten Fackeln bereit. Die Hitze kroch unter das Dach, ein beunruhigendes Knistern lag in der Luft. Schon begannen einzelne Dachbalken zu ächzen, Funken rieselten wie glühender Schnee in den Hof.

Nur dank der Wasserelementare hatten wir überhaupt genug Zeit, um zu reagieren. Während die Flammen von oben versuchten, das Dach zu entzünden, wirkten die Wesen aus dem Innern der Taverne heraus schützend. Ihr Wasser schien zu denken, zu fühlen – es war nicht nur ein Element, es war eine Absicht. Die niederen Luftelementare, kaum größer als Katzen, entzogen dem Feuer die Luft und formten kleine Wirbel aus sauerstoffleerem Wind, die die Flammen aushungerten, noch bevor sie sich entfalten konnten. Ihre Bewegungen waren hastig, beinahe verspielt, doch ihre Wirkung war verheerend – für das Feuer.

„Nicht dieses Dach“, flüsterte ich – mehr zu mir selbst, als zum Himmel – und rief währenddessen die arkanen Kräfte in mir zusammen. Die Worte formten sich schnell, klar, in einer alten Zunge, deren Klang das Knacken der Flammen übertönte. Ich riss den Stab in die Höhe, wirbelte ihn im Kreis – dann senkte ich ihn in die Erde. Der Boden vibrierte. Der Himmel antwortete.

Ein Wind erhob sich, kalt und voller Ozon. Staub wurde aufgewirbelt, brennende Stofffetzen flogen empor wie erschrockene Vögel. Dann das erste Grollen, tief und weit entfernt. Blitze zuckten durch die Wolken, die ich selbst heraufbeschworen hatte – eine Gewitterfront, geboren aus Not und Entschlossenheit. Wolken türmten sich, schwollen an wie die Brust eines zornigen Riesen. Und mit dem Grollen kam der Regen.

Dick, kalt und schwer prasselte er nieder. Er schlug die Flammen nieder, löschte das Pech, ließ Funken zischen. Die Geräusche wurden gedämpft, das Feuer wehrte sich, aber der Regen war unnachgiebig. Ich schickte die Wasserelementare – drei an der Zahl – hinaus. Sie glitten durch die Glut wie Schatten aus Gischt, warfen sich über Brandherde, erstickten lodernde Balken mit ihren flüssigen Leibern. Einer von ihnen erhob sich in Menschengestalt, nur um sich wie ein Schleier über ein ganzes Dachfenster zu legen. Ein anderer schlängelte sich durch den Hof, spie Wasser in breiten Bögen, während der dritte mit einer Art freudiger Wut gegen einen Angreifer prallte und ihn samt Fackel rücklings in eine Schlammpfütze schleuderte.

Dann, ein Ruf von oben: „Anführer entdeckt!“ – Liraels Stimme, scharf wie ein Pfeil selbst, durchbrach das Tosen.

Ich blickte auf. Dort, auf dem Kamm, der sich zwischen Moonglow und der Taverne zog, stand ein massiger Mustang, dessen Fell im Regen glänzte wie poliertes Ebenholz. Auf seinem Rücken: ein Krieger, ganz in Schwarz, gerüstet bis zu den Zähnen. Kein Brigant. Kein Söldner. Ein Anführer. Seine Rüstung war von einem dunklen Violett durchzogen, kaum sichtbar im Regen, aber unheilvoll leuchtend, wenn der Blitz kam.

„Na endlich“, sagte ich – und begann einen weiteren Zauber zu wirken …

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Die Magie strömte durch mich, kraftvoll, geordnet – doch wild in ihrer Tiefe. Diesmal kein Schutz, keine Elementare. Ich rief nach etwas Anderem. Aus dem Stab selbst – aus seiner Spitze, in die einst uralte Siegel gebrannt worden waren – öffnete sich eine Falte des Raums, die nur jenen offenstand, die bereit waren, Konsequenzen zu tragen. Türkis leuchtend, zischend, brach ein Riss hervor. Rauch trat aus. Und dann trat er hindurch – nicht groß, nicht geflügelt, kein Schrecken aus den Tiefen der Verdammnis, sondern ein Jäger. Dünn, hager, mit langen Klauen und zwei Augen, die wie Flammen brannten. Ein Dämon – gebunden an mein Artefakt, uralt, gefährlich, und für diesen einen Zweck freigegeben. Ich spürte die uralte Bindung pochen, als würde mein Stab selbst atmen. Jede Bewegung des Wesens war durch die Runen an der Stabspitze begrenzt – kontrolliert. Noch.

„Bindung: Angriffsziel – Reiter auf dem Hügel“, flüsterte ich, und der Dämon stieß ein kehliges Knurren aus. Dann rannte er los. Er sprang durch das Fenster, unmenschlich weit, seine Bewegungen unnatürlich geschmeidig, als wäre die Welt selbst für ihn porös geworden.

Der Anführer spürte es. Er lenkte seinen Mustang zurück, stieg ab, zog das Schwert – eine Klinge aus schwarzem Metall mit violettem Schimmer, deren Aura sich dem Dämon entgegenzusetzen schien. Die beiden Wesen prallten aufeinander. Krallen gegen Klinge, Flamme gegen Rauch. Der Dämon schlug wild, ungestüm, doch der Krieger hielt stand – nicht ohne Mühe. Sie tanzten im Regen, ein Duell aus Schatten, das sich drehte, sprang, tobte. Jeder Treffer zischte im Regen, als würde der Himmel selbst den Kampf zu löschen versuchen.

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Ich wollte bereits eingreifen, als der Anführer plötzlich taumelte. Er schnappte nach Luft, ließ das Schwert sinken, seine Finger tasteten an seinem Hals.

Der Dämon zögerte keine Sekunde und nutzte die Schwäche, er stieß dem Anführer Klauen, lang wie Dolche in die seitlichen Lücken der Panzerung. Er holte gerade aus um dem Anführer den Kopf abzureißen, als ich ihn erneut Bann. Ein flüchtiges Aufglimmen im Türkis meines Stabs, ein Zischen, wie das Schließen eines Schlosses. Die Bindung kehrte zurück, der Riss versiegelte sich, der Dämon wurde zurück gezerrt. Er wütete und zum ersten mal seit Jahren erklang seine Stimme, unheilvoll und mächtig. „Noch drei Mal kleine Magierin, dann bricht der Pakt! Dann werde ich mich rächen!“ Dann wurde der Dämon eingesogen, gebannt, erneut versiegelt in der Tiefe meines Stabs. Ich spürte einen kurzen Widerstand, ein letzter Impuls, fast wie Wut – dann war es still.

Dann sah ich ihn. Er trat von dem Anführer weg, den schlichten Mytherildolch noch in der Hand, nass, entschlossen.

Nathanael.

Der Junge, den ich einst unterwies, hatte sich in die Nacht gewoben, war selbst zu einem Schatten geworden und in dieser Gestalt blitzschnell teleportiert – und hatte nicht gezögert. Die Stichwunde an der Seite des Anführers war tief, gezielt, tödlich. Ein sauberer, präziser Hieb. Kein Zögern. Kein Zweifel.

Die letzten Briganten versuchten zu ihm zu eilen – ein letztes Aufbäumen. Ich hob meinen Stab, sprach die Worte, und ein Kettenblitz fuhr aus den Wolken, verzweigte sich in alle Richtungen, fand jeden einzelnen. Die Luft roch nach Ozon, verbrannter Kleidung – und endgültigem Ende.

Es war vorbei.

Die Überlebenden flohen. Die Flammen starben. Der Regen blieb. Dampf stieg auf, und mit ihm das letzte Flüstern der Magie. Es war ein Klang wie aus der Tiefe – nicht mehr als ein Echo meiner Macht, vermischt mit dem Grollen der nachlassenden Gewitterfront. Die Taverne stand noch, rauchend, zerschunden, aber ungebrochen. Einzelne Dachziegel klangen klirrend zu Boden, und irgendwo weinte ein Tier. Ich atmete tief durch.

Ich wirkte erneut Magie – diesmal präzise, fast sanft – und stand einen Herzschlag später dem Anführer gegenüber. Die Teleportation brachte mich wenige Schritte von ihm entfernt in den Matsch. Ich trat langsam näher. Der Regen hatte ihn fast unkenntlich gemacht, sein Helm war fort, das Gesicht blutverschmiert, das Kinn von Bartstoppeln bedeckt. Er lag mit verdrehtem Oberkörper auf der Seite, Blut vermischte sich mit Regenwasser und Erde. Seine Augen weiteten sich, als er mich sah. Nicht aus Angst. Aus Erkenntnis. Und etwas anderem – Reue vielleicht. Oder Resignation.

„Das hätte anders laufen müssen“, keuchte er, kaum hörbar. Seine Stimme war rau, brüchig, aber in ihr lag kein Trotz mehr. Nur Müdigkeit.

Ich kniete mich nieder, achtete nicht auf den Schlamm, der sich in die Falten meines Wamses sog. Meine Stimme war leise, aber fest. „Ihr hättet euch nicht mit der Taverne anlegen sollen.“

Er lächelte schwach – ein schiefer, müder Zug. „Es war nur ein Auftrag... ein einfacher Auftrag.“

Ich antwortete nicht. Ich hielt seinen Blick, bis er flackerte. Ein letzter Atemzug. Dann nichts mehr.

Erst dann sah ich zu meinem einstigen Schüler, dem Jungen, der einst mein Schüler geworden wäre. Mein Blick traf ihn mit einer Mischung aus Müdigkeit und Verwunderung. Zu viele Eindrücke wirbelten in meinem Kopf – der Kampf, der Dämon, das Feuer, der Tod des Anführers. Ebenso wie die Schriftrolle, hätte auch Nathanael nicht hier sein dürfen. Nicht jetzt. Nicht in dieser Nacht.

Und doch stand er da. Kein Zauber beschützte ihn, kein Schild verbarg ihn, nur die Nässe seiner Kleider und der kühle Blick, der meine Gedanken zu lesen schien. Der Mytherildolch war noch in seiner Hand, von Regen und Blut gereinigt. Eine Geste wie ein Symbol – nicht Verteidigung, sondern Entscheidung.

„Hallo Bareti“, sagte er schlicht mit rauchiger Stimme, tief und ruhig, als würde er mich nach all den Jahren zum ersten Mal wirklich sehen. Ich hatte so viele Male über diesen Moment nachgedacht – das Wiedersehen mit dem Schüler, den ich nie haben durfte. Und doch war dies kein Wiedersehen. Es war ein neues Kennenlernen.

Er war älter geworden. Nicht nur an Jahren, sondern an Last. Ich sah die Narben an seinen Händen, die Schwielen, den misstrauischen Zug um den Mund. Ich sah das Wissen in seinen Augen, das ihn alt machte – und das Schweigen, das ihn jung hielt.

Und dann erkannte ich ihn.

Er war der seltsame Fremde in der Taverne gewesen. Der, dessen Blick den meinen gesucht hatte ohne ersichtlichen Grund.

Die Erkenntnis traf mich wie ein letzter Blitz: Nathanael war zurück, zurück aus einer Zeit die verloren war.

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Der Morgen nach dem Angriff war kühl, aber trocken. Die Luft war noch von Rauch durchzogen, doch das Schlimmste war überstanden. Die Taverne hatte dem Angriff standgehalten – verrußt, erschüttert, aber weiterhin intakt.

Das Nebengebäude jedoch war ein Totalschaden. Weder Ulaf noch ich hatten Hoffnung, dort noch etwas retten zu können. Die Tragstruktur war zu stark beschädigt, die Balken verkohlt und instabil. Besonders tragisch war der Verlust der kleinen Werkstatt – das Projekt eines Jungen, den wir seit Tagen nicht mehr gesehen hatten. Auch sie war ein Opfer der Flammen geworden.

Die Bedeutung der herbeigerufenen Wasserelementare ließ sich an den verbliebenen Spuren ablesen. Ohne ihr Eingreifen hätte das Hauptgebäude vermutlich sein Dach verloren. Noch waren feuchte Linien sichtbar, in denen sie gewirkt hatten – wie magische Adern, die durch das Chaos verliefen und das Schlimmste verhindert hatten.

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Nicoletta hatte sich bereits an die Erfassung der Schäden gemacht. Mit bemerkenswerter Sachlichkeit dokumentierte sie die Zerstörungen, prüfte die Gebäudestruktur und verteilte Aufgaben zur Wiederherstellung. Hinter ihrer ruhigen Stimme lag jedoch eine spürbare Anspannung, die sich in der Effizienz und Geschwindigkeit ihrer Handlungen zeigte.

Ulaf bewegte sich mit einem Wassereimer durch das Gelände, als führe er ein stilles Ritual aus. Immer wieder benetzte er bereits erkaltete Stellen, während er in seiner Muttersprache Zwergenworte murmelte – vielleicht ein Gespräch mit dem Boden selbst, ein Versuch, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Sein Verhalten hatte etwas Tröstliches, fast Meditatives.

Lirael hatte sich – ganz ihrer Natur entsprechend – in eine der Eichen zurückgezogen, um die Umgebung zu sichern. Niemand hatte es ihr aufgetragen, doch jeder wusste, dass es keinen besseren Posten für sie gab. Die Baumwipfel waren ihre Welt, von dort aus behielt sie den Überblick, schützte uns mit wachsamem Blick. Ihre Abwesenheit war beruhigender als viele andere Gegenwart.

Nathanael hatte sich keineswegs zurückgezogen, sondern war demonstrativ an seinen angestammten Platz in der Ecke der Taverne zurückgekehrt. Sein Verhalten wirkte bewusst ruhig, beinahe forsch – als wolle er betonen, dass seine Anwesenheit nicht vorübergehend, sondern Teil eines größeren Vorhabens sei. Die Wahl des Platzes war kein Zufall, sondern ein stilles Signal an alle Anwesenden, dass seine Rolle in dieser Geschichte noch nicht beendet war. Fast beiläufig – ob absichtlich oder unbewusst blieb unklar – hatte er seinen Dolch auf dem Kaminsims abgelegt. Zunächst schien es niemandem aufzufallen, doch das schlichte, markante Stück Metall wirkte wie ein unausgesprochenes Symbol seiner bleibenden Präsenz.

Ich selbst hatte am Tisch vor dem Kamin Platz genommen. Das Notizbuch lag aufgeschlagen vor mir, die Feder lag bereit, doch meine Gedanken kreisten. Im Kamin brannte bereits ein kleines, gleichmäßiges Feuer – nicht um zu wärmen, sondern um die durchdringende Feuchtigkeit der Nacht aus dem Mauerwerk und den Holzbalken zu treiben. Der Raum roch nach nassem Holz, schwachem Tee und der Asche des zurückliegenden Feuers. Ich zwang meine Atmung in ruhige Bahnen, versuchte Kontrolle zu bewahren, während mein Blick unwillkürlich immer wieder zur Tür wanderte – als erwarte ich, dass der nächste Sturm schon bereitstünde.

Neben mir saßen Aetherium und ein Vertreter des Stadtrates. Vor jedem von uns stand eine Tasse Tee. Ich hätte lieber meinen Most getrunken, doch Aetherium hatte recht behalten – ein klarer Geist war gefragt. Nathanaels plötzliche Rückkehr hatte zahlreiche Fragen aufgeworfen, doch er hatte sich beschwichtigend gegeben: „Dafür ist später Zeit.“

Und er hatte damit recht. Die Zeit des Abwartens war vorbei. Der Gegenschlag erforderte mehr als bloße Reaktion – er verlangte strukturierte Vorbereitung, gezielte Planung und den professionellen Umgang mit Verwaltung und Rechtslage. Wir hatten diesen Konflikt nicht gesucht, aber wir würden ihn nun mit Disziplin und Weitsicht zu Ende bringen.

„Sein Name lautet Merevan Halbrecht“, begann Aetherium mit ruhiger Stimme. Mit dieser Namensnennung wurde der bislang anonym agierende Gegenspieler identifiziert – und verlor damit einen seiner strategisch bedeutendsten Vorteile. „Sein Vater war vormals Eigentümer der Taverne ‚Zum Goldenen Krug‘ in Moonglow. Bereits zu jener Zeit bestanden manifeste Interessenkonflikte mit der heutigen Taverne, wobei überliefert ist, dass der damalige Eigentümer durch wirtschaftlichen und möglicherweise politischen Druck zur Aufgabe gezwungen wurde.“

Aetherium hielt kurz inne, bevor er sachlich fortfuhr: „Merevan setzt diese aggressive Besitzstrategie seines Vaters fort. Getrieben von der Sorge um den Wert seiner eigenen Einrichtung und die damit verbundenen Einkünfte, entschloss er sich offenbar, direkte Maßnahmen gegen Sie, Lady Bareti, zu ergreifen.“

Ein kurzer Blick zur Seite, dann ergänzte er: „Der Zustand des ‚Goldenen Krugs‘ lässt mittlerweile auf eklatante Managementdefizite schließen. Die Qualität des Betriebs ist stark gesunken, und die Klientel hat sich erheblich verändert. Laut mehreren Quellen umfasst sein Umfeld inzwischen auch kriminelle Gruppen – vermutlich dieselben Briganten, die den Angriff auf Ihre Taverne verübten.“

Der Gelehrte nahm einen Schluck Tee. „Übrigens ausgezeichnet, Lady Bareti“, bemerkte er mit einem leichten Lächeln und nickte dem Beauftragten des Rates zu.

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„Im Zuge der umfassenden Überprüfung ließen sich keine nachweisbaren Pflichtverletzungen innerhalb des Rates feststellen. Etwaige verdeckte Einflussnahmen, sofern sie erfolgt sind, wurden derart sorgfältig verschleiert, dass sie sich mit den derzeit verfügbaren Mitteln nicht belegen lassen. Die gegen Sie, Lady Bareti, erhobenen Anschuldigungen wurden formal protokolliert und unterliegen folglich der Prüfung gemäß den geltenden verwaltungsrechtlichen Verfahren.“

Ich war im Begriff, auf die offensichtliche Absurdität vieler dieser Anschuldigungen hinzuweisen, als Aetherium mit einer leichten Geste – dem Heben eines Fingers – mir wortlos zu verstehen gab, zu schweigen. Die Geste erinnerte mich an eine frühere Zeit: an Hörsäle, Disziplin und unausgesprochene Hierarchien.

„Basierend auf der durchgeführten Begehung durch den bevollmächtigten Ratsbeauftragten, in Zusammenschau mit dem von der Academia Ars Magica offiziell bestätigten Leumund sowie dem vermittelnden Einfluss von Junker Hagrobald von Erlengrund“, führte der Beamte sachlich aus, „wurden die Mehrzahl der gegen Sie erhobenen Beanstandungen nach eingehender Prüfung formell fallengelassen. Die von Ihnen vorgelegten Unterlagen belegen zweifelsfrei, dass der Betrieb der Taverne durchgängig im Einklang mit den geltenden Vorschriften erfolgte und auch die wasserrechtlich relevante Quelle ordnungsgemäß registriert und geführt wurde.“

Er notierte etwas auf einem kleinen Pergament.

„Obgleich die finale technische Prüfung des Kamins noch aussteht, ist es mir eine besondere Freude, Ihnen hiermit die offizielle Schanklizenz zu überreichen. Diese umfasst die konzessionierte Ausgabe alkoholischer Getränke, die gewerbliche Bereitstellung von Speisen sowie die temporäre Unterbringung von Gästen gemäß den Bestimmungen des geltenden Gaststättenrechts.“

Er rollte das Schriftstück zusammen, versah es mit einem Siegelband und reichte es mir.

„Bitte verwahren Sie die Lizenz gewissenhaft – sie ist im Bedarfsfall jederzeit einem autorisierten Vertreter des Rates zur Einsicht vorzulegen.“

Anschließend entrollte der Beamte ein weiteres Dokument. „Gemäß der bestehenden Vereinbarung mit dem Rat der Stadt Moonglow wird Ihnen hiermit formell der Eigentumstitel für das 'Flurstück 86/1 - Flur 27 - Liegenschaft 7422 im Bereich 7b, nordwestlicher Verwaltungsbogen der Außenbezirke Insel Moonglow' übertragen. Die vertraglich vereinbarte Kaufpreiszahlung ist innerhalb eines Zeitraums von vierzehn Tagen vollständig an die zuständige Stadtkasse zu leisten. Die frühzeitige Übergabe des Titels erfolgt im Vertrauen auf Ihren ausgezeichneten Leumund und die ordnungsgemäße Abwicklung aller weiteren Schritte.“

Auch dieses Dokument wurde mir mit einem förmlichen Lächeln überreicht, woraufhin sich der Beamte erhob.

„Lady Bareti, es ist mir eine besondere Ehre, Sie nun formell als rechtsgültig eingetragene Bürgerin der Stadt Moonglow auf unserer Insel begrüßen zu dürfen. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Verlauf Ihrer weiteren Unternehmungen.“

Mit seinem Abschied wich nicht nur der Beamte aus meiner Taverne – auch die meisten Sorgen der letzten Wochen hatten sich plötzlich in Luft aufgelöst.

Aetherium lächelte noch, als der Beamte die Tür hinter sich schloss.

„Sie haben in dieser Angelegenheit durchaus an Einfluss gewonnen, Lady Bareti – jedoch nicht ohne Konsequenzen. Ebenso wie Sie nun über neue Unterstützer verfügen, haben Sie sich auch neue Gegner geschaffen. Und gestatten Sie mir die Bemerkung: Ich erinnere mich, dass Sie ursprünglich nicht die Absicht hegten, sich in eben jene politischen Sphären einzubringen.“

Ich wollte etwas erwidern, doch ein Blick von ihm brachte mich zum Schweigen.

„Was Merevan Halbrecht betrifft, so besteht aus gegenwärtiger Sicht kein Anlass zur Besorgnis mehr. Sein politischer Einfluss innerhalb des Rates ist maßgeblich geschwächt worden, und auch auf der Ebene adliger Netzwerke wurde ihm die Unterstützung entzogen – insbesondere durch den Junker, der ihn nicht länger zu seinem engeren Kreis zählt.“

„Da wir vom Junker sprechen“, begann ich schließlich, „dürfte ich dann davon ausgehen, dass mein Schreiben seine Zustimmung fand?“

Aetherium bestätigte mit einem knappen Nicken. „In der Tat – er hat sein Wohlwollen zum Ausdruck gebracht. Allerdings ersucht er nun um eine detaillierte Aufschlüsselung des geplanten Vorgehens sowie um einen verbindlichen Zeitplan hinsichtlich der operativen Umsetzung.“

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Noch lange, nachdem sich die Tür hinter Aetherium geschlossen hatte, blieb es still. Nur das Knacken des Feuers und das ferne Tröpfeln vom Dachrand begleiteten unsere Gedanken. Die Luft war schwer vom Gewicht des Vergangenen – und zugleich erfüllt von etwas Neuem. Es war nicht Hoffnung, nicht einmal Erleichterung. Es war die stille Gewissheit, dass nun ein anderer Abschnitt begann.
„Die Mauern stehen, das Feuer wärmt – und das Recht trägt nun meinen Namen. Die Taverne ist nicht länger nur Zuflucht. Sie ist Anspruch. Und Verpflichtung. Wer hier einkehrt, betritt mehr als ein Gebäude. Er betritt eine Idee. Und jene, die sie angreifen, erkennen nun, dass sie mit Stahl allein nichts gewinnen können. Magie, Gemeinschaft und Wille sind stärker als Gier und Gewalt. Wenn dieser Ort eines lehrt, dann dass Widerstand nicht laut, sondern standhaft ist – und dass selbst Stille eine Form der Antwort sein kann.“
Bareti
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Tintenfass, Taufe & Turbulenzen – oder: Wie wir wurden, was wir sind

Beitrag von Bareti »

Episode XVI
„Tintenfass, Taufe & Turbulenzen – oder: Wie wir wurden, was wir sind“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit Rückgrat, Feder – und Familie.

Es war ein seltener Abend auf der Insel – die Luft kühl und klar, der Himmel von Sternen übersät. Das Licht des Himmels spiegelte sich in den Fensterscheiben der Taverne, über deren Kamin das geschnitzte Bild eines Kraken hing. Acht geschwungene Arme breiteten sich über das Holz aus, frisch geölt und lebendig wirkend, als würde sich das Bild im Spiel des Lichtes bewegen. Inmitten der Tentakel lag ein leerer Kreis – rätselhaft, voller Bedeutung, als warte er nur auf diesen Abend. Ein kaum wahrnehmbares Glimmen ging von ihm aus – wie ein stilles Versprechen. Die Flammen warfen zuckende Schatten an die Wände, die den Raum wie eine Bühne erscheinen ließen, als würde gleich etwas beginnen.

Drinnen knisterte das Feuer, begleitet vom Duft frischen Brots und würziger Kräuter. Ulaf, der Zwerg, hatte die Sudkessel inspiziert – wortkarg wie immer, aber mit dem sicheren Blick eines erfahrenen Handwerkers. Niemand zweifelte an seiner Einschätzung: Heute würde alles gelingen. Sorgfältig hatte er einen frischen Krug vom besten Most abgefüllt und sich dann mit einem Ale an den Tisch am Kamin gesetzt. Er warf hin und wieder einen prüfenden Blick zur Tür – als erwarte er jemanden oder etwas. Er schien selbst nervös zu sein, obwohl er es niemals zugeben würde. Und auf seine Weise sorgte auch er für Ordnung – mit Brummen, Knurren und der Entschlossenheit eines Mannes, der längst Teil von etwas Größerem war.

Lirael, die Waldelfe, saß abseits, aber wachsam. Seit sie der Taverne in schweren Stunden zur Seite gestanden hatte, war sie kaum noch weg zu denken. Sie kam nicht immer in die Räumlichkeiten der Taverne, doch ihre Nähe war stets spürbar. Ihre stille Präsenz wirkte wie ein lebendiger Zweig im Gefüge dieses Abends. Niemand sprach sie an, doch jeder spürte, dass sie wachte – nicht über die Taverne, sondern über das, was darin entstehen sollte. Ihre Augen glitten immer wieder zu dem Kraken über dem Kamin, als würde sie dort Antworten suchen, die niemand laut aussprach.

Nicoletta stand am Tresen und hatte mit stiller Sorgfalt für alles gesorgt. Die Gläser waren poliert, die Bänke geordnet, ein Kranz aus Trockenblumen zierte das Fenster. Sie trug ihr Haar heute locker, eine einzelne Strähne klebte an ihrer Wange, während sie sich über das Holz beugte. Doch sie wirkte ruhig, bereit. Sie sprach kaum ein Wort, aber sie war präsent wie das Herz einer Uhr, das unermüdlich schlägt. Am Tresen standen zwei Tonkrüge bereit, ihre Hand lag eine Weile auf dem einen, bevor sie weiterging. Nicht als Kellnerin, nicht als Magd – sondern als jemand, der verstanden hatte, dass der Raum nicht nur bedient, sondern auch beschützt werden wollte.

Hinten im Schatten saß Nathanael, ruhig, aber beobachtend. Der Blick meines ehemaligen Schülers war ruhig und ernst, und ich wusste, dass er nicht nur wegen mir gekommen war. Seine Präsenz war wie ein stiller Prüfstein für diesen Abend – als ob er spüren wollte, ob all das mehr war als ein schönes Wort. Er hatte sich bewusst nicht in den Mittelpunkt gesetzt, sondern jenen Winkel gewählt, aus dem er das Ganze überblicken konnte. Seine Finger lagen gefaltet auf dem Oberschenkel, doch die Knöchel waren leicht angespannt – ein stilles Zeichen, dass er sich vorbereitete, zu reagieren, sollte etwas aus dem Ruder laufen. Nathanael hatte schon immer dieses stille, fast akademische Misstrauen gegenüber zu großen Worten. Ich erinnerte mich an unzählige Stunden, in denen er mit kritischer Stimme meine Argumente zu zerpflücken versuchte – nicht aus Trotz, sondern aus dem tiefen Wunsch, die Wahrheit dahinter zu erkennen.

Dann betrat ich – Bareti – den Raum. Die Ärmel hochgekrempelt, ein türkises Tuch um die Schultern, in der Hand ein altes, gefaltetes Pergament. Nicht von heute, vielleicht nicht einmal von dieser Zeit. Ich trat an den Tisch am Kamin, strich flüchtig mit den Fingern über das Pergament und sah in die Runde. Fünf. Ich zählte nicht in Zahlen, sondern im Gefühl. Es waren mehr als genug. Und doch schien ein Teil von mir zu wissen: Was jetzt folgen würde, würde größer sein als jede einzelne von uns.

Ich ließ den Blick noch einmal wandern: Ulaf, der mit seiner Handfläche über den Krug fuhr, als wolle er prüfen, ob dieser Moment wirklich real sei. Nicoletta, die sich unauffällig an eine der Banklehnen gelehnt hatte, bereit, aber in sich ruhend. Lirael, deren Haltung zwischen Vorsicht und Vertrauen pendelte – als sei sie hier, doch mit einem Teil ihres Seins zugleich im Wald. Und Nathanael, mein Schüler, der einst gegangen war, um das Denken zu vertiefen, und nun hier stand – nicht als Beobachter, sondern als Teil.

Das Pergament in meiner Hand war schwerer geworden. Nicht im wörtlichen Sinne, aber in Bedeutung. Es war kein Schriftstück mehr, sondern ein Gefäß. Ein Raum für Zeichen. Für das, was uns verband. Und mir wurde bewusst: Ich musste nicht mehr überzeugen. Nicht sprechen, um zu rechtfertigen. Sondern einfach nur beginnen.

Ein leises Knistern des Feuers begleitete diesen Moment, als würde auch die Taverne selbst den Atem anhalten.

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„Ich habe lange beobachtet, wie sich dieser Ort füllt“, sagte ich leise. „Mit Geschichten. Gedanken. Möglichkeiten.“ Ich entrollte das Schriftstück und legte es auf den Tisch am Kamin. Eben jener Tisch der irgendwie das Zentrum der Taverne geworden war. 
„Mit Spuren“, fügte ich nach einem Atemzug hinzu, während mein Blick über die Gesichter glitt. „Spuren von Menschen, die kamen, blieben, gingen – und doch etwas hinterließen. Manche sprachen viel, manche gar nicht. Manche bauten, manche heilten, manche tranken nur. Doch alle – alle – haben etwas beigetragen.“

Ich hielt inne, sah in die Flammen, dann wieder zu ihnen. „Dieser Ort hat sich gefüllt mit Träumen, die keiner aussprach. Mit Ängsten, die geteilt wurden. Mit Liedern, die nachts noch in den Dielen summen. Er ist nicht nur gebaut worden – er wurde erlebt.“

Ich legte eine Hand auf das Pergament. „Und jetzt ist es an uns, dem Erlebten ein Zeichen zu geben. Keine Mauer, kein Stein, kein Dach ist so stark wie ein Wille, der getragen wird. Ich habe lange gewartet, das auszusprechen. Weil ich sicher sein wollte. Aber heute weiß ich: Wir sind bereit.“

Ich trat zum Kamin, nahm meinen Stab in die Hand – ein langes, glattes Stück alten Holzes, das ich einst in den Bergen gefunden hatte. Der Stab hatte mich seither begleitet, durch kalte Nächte und hitzige Debatten, durch Erkenntnisse und Verluste. Er war nie nur ein Werkzeug gewesen – sondern eine Erinnerung. An Herkunft. An Pflicht. An das, was bleibt, wenn Worte verhallen.

„Dieser Stab steht für Magie & Wissen – für das, was in diesem Haus bewahrt und weitergegeben werden soll. Für das Fragen, das nicht verstummt. Für das Forschen, das nicht ruht. Für das Erinnern, das uns verbindet.
Er verkörpert auch die Unsichtbarkeit der Kraft, die aus dem Inneren kommt – nicht aus Lautstärke oder Geltung, sondern aus Erkenntnis. Jeder Kratzer an seinem Holz erzählt von einem Ort, an dem ich innegehalten, geforscht oder mich geirrt habe. Es ist nicht das Wissen allein, das uns trägt – es ist die Bereitschaft, es zu teilen, zu hinterfragen, weiterzugeben. Dieser Stab ist nicht nur ein Symbol der Magie, sondern auch der Demut – vor allem, was wir nicht wissen. Und vor dem Mut, dennoch zu handeln.“


Ich legte ihn langsam, fast ehrfürchtig, neben das Pergament. Sein Gewicht berührte das Holz kaum, und doch schien der ganze Raum zu spüren, dass etwas begonnen hatte.

Ich griff nach dem Dolch, die Klinge war schlicht, aber scharf. Sie spiegelte das Licht der Flammen, als wolle sie prüfen, ob dieser Moment ihrer würdig war.

„Der Dolch, den Nathanael kürzlich brachte, steht für Grenzen & Gegenwehr – für das Wissen, wann ein Nein nötig ist. Für das Vermögen, nicht nur zu träumen, sondern zu schützen. Für die Kraft, sanft zu sein, und dennoch nicht wehrlos. Für das Maß, das nicht durch Lautstärke bestimmt wird, sondern durch Klarheit.
Er erinnert uns daran, dass Schutz nicht immer mit Gewalt einhergeht – sondern mit Haltung. Dass eine klare Grenze oft leiser, aber wirksamer ist als ein lauter Protest. Dieser Dolch steht nicht für Angriff, sondern für Entscheidung. Für das Erkennen, wann genug ist. Wann etwas verteidigt werden muss – nicht aus Besitzdenken, sondern aus Fürsorge. Für Menschen. Für Werte. Für den Ort, an dem man lebt.
Er mahnt uns, nicht aus Angst zu handeln, sondern aus Einsicht. Und er schenkt uns das Bewusstsein, dass auch in der Verteidigung Würde liegen kann.“


Ich legte die Klinge ab – mit der Spitze vom Kreis abgewandt, als Zeichen, dass sie schützen sollte, nicht spalten. Ein leises Knacken im Feuer begleitete den Moment. Als hätte das Holz verstanden.

Dann nahm ich die Harfe, einst zurückgelassen von einem reisenden Barden. Ihre Saiten waren leicht verstaubt, doch als ich mit dem Finger darüberstrich, erklang ein weicher, tiefer Ton, der sich fast wie ein Atmen anhörte. Sie war klein, tragbar, und dennoch trug sie eine unerwartete Würde in sich – wie das Vermächtnis all jener, die sich trauten, gehört zu werden. 

„Dieses Instrument steht für Vielstimmigkeit & Freiheit. Jeder gibt einen Ton – erst gemeinsam entsteht Klang. Sie mahnt uns, zuzuhören. Nicht nur auf Worte, sondern auf Stimmungen, auf Zwischentöne, auf das, was man nicht sagt. Freiheit beginnt dort, wo viele Stimmen Platz finden.
Sie steht für all jene, die nicht lauter, sondern anders sind. Für das Lied, das leise beginnt und erst durch andere Stimmen wächst. Für die Geschichten, die sich verweben, wenn man sie lässt. Diese Harfe ist nicht nur ein Musikinstrument – sie ist ein Bild für das Leben selbst. Für das Gleichgewicht zwischen Einzigartigkeit und Zusammenspiel. Und sie erinnert uns: Freiheit ist nicht das Fehlen von Grenzen – sondern das Vorhandensein von Möglichkeiten.“


Auch sie legte ich ab, vorsichtig, als legte ich ein Versprechen auf den Tisch. Dann wandte ich mich dem Sims zu und holte die Sanduhr. Ihr Glas war milchig, das Innere aus etwas feinerem als Sand, das leise aufwärts rieselte, obwohl ich sie noch gar nicht gedreht hatte. Sie war alt – vielleicht älter als alle anderen Gegenstände auf dem Tisch – und doch hatte sie nie an Bedeutung verloren.

„Dies ist das Symbol für Wille & Wandel – sie hat Veränderung gespürt, bevor wir sie wahrgenommen haben. Zeit ist nicht nur ein Fluss – sie ist ein Werkzeug. Ein Prüfstein. Ein Versprechen, dass nichts bleibt, wie es war, und dass das gut so ist. Diese Sanduhr erinnert uns daran, dass Wandel nicht Chaos ist, sondern Bewegung. Richtung.
Sie spricht von der Kraft des Übergangs – von der Schwelle zwischen Altem und Neuem, auf der wir heute stehen. Manchmal rinnt die Zeit lautlos, fast unbemerkt. Doch dann gibt es jene Augenblicke, in denen sie hörbar wird – wie ein Herzschlag, wie ein Ruf, der Veränderung fordert. Und in solchen Momenten, wie diesem, hält man nicht inne, um aufzuhalten – sondern um bewusst zu gehen.
Der Sand in ihr ist nicht einfach vergangen. Er ist Zeugnis. Und der, der noch fällt, ist Einladung. Veränderung beginnt nicht draußen. Sie beginnt in uns – und diese Uhr erinnert uns daran, dass wir Teil dieses Stroms sind. Nicht getrieben, sondern entschlossen.“


Mit Respekt stellte ich sie dazu. Es war, als ob der Sand für einen Moment innehielt.

Danach griff ich zu dem kleinen Kräuterbündel. Lavendel, Thymian, etwas Salbei – sorgsam gebunden mit einer feinen, hellen Bandage. Es duftete nach Heimkehr und Genesung, nach stillen Nächten und behutsamen Händen. Ich erinnerte mich an den Fremden, der es einst brachte, ohne Namen, ohne Worte, nur mit einem Nicken.

„Ein Geschenk eines Fremden. Symbol für Heilkunst & Fürsorge. Für das Wissen, dass Hilfe oft leise kommt. Dass Heilen nicht nur Wunden betrifft, sondern auch Gedanken, Erinnerungen, Zwischenmenschliches. Es erinnert uns daran, dass jedes Haus nur dann Heimat ist, wenn es Sorge trägt – für andere, aber auch für sich selbst.
In diesem Bündel liegt mehr als Kräuterkunde – es ist ein stilles Bekenntnis zur Achtsamkeit. Der Duft von Lavendel lindert nicht nur den Schlaf, sondern auch das Herz. Salbei schützt, Thymian stärkt – und zusammen erzählen sie von Fürsorge, die ohne Erwartung gegeben wird. Es ist eine Einladung, zu heilen, bevor es schmerzt, und zu erkennen, wann jemand Zuwendung braucht, ohne darum zu bitten. Dieses Bündel sagt: Du wirst gesehen. Selbst wenn du schweigst.“


Der Schmiedehammer folgte. Es war kein prachtvolles Werkzeug, sondern ein schlichtes, gut genutztes Stück Eisen mit einem Griff, der an manchen Stellen bereits abgegriffen war. Er war zufällig zu den anderen Symbolen dazu gekommen, als der Junge ihn aussortiert hatte. Der Schreinerlehrling hatte sich nichts dabei gedacht und doch etwas beigetragen.

„Ein spätes Symbol für Handwerk & Versorgung. Er half, diesen Ort am Leben zu halten. Mit jedem Schlag. Er erinnert uns daran, dass nicht jedes Werk gefeiert, aber jedes gebraucht wird. Dass etwas entstehen kann, wenn Hände schweigen und handeln. Er erzählt vom Alltag, vom Schweiß, von der Geduld. Vom Wiederholen, vom Ausbessern, vom leiser werden, wenn andere laut sind. Dieser Hammer steht nicht für das große Werk – sondern für das tägliche. Für das, was niemand bemerkt, solange es funktioniert. Und das, was schmerzlich fehlt, wenn es geht. In seinem Eisen steckt der Rhythmus derer, die nicht fragen, ob es glänzt – sondern ob es hält.“

Ich legte ihn neben die anderen, und es war, als würde der Tisch ein wenig tiefer klingen unter seinem Gewicht. Ein Resonanzboden für das Gelebte.

Zuletzt griff ich nach der Laterne. Ihr Glas war leicht milchig, doch der Glanz darin war heller als je zuvor. Sie hatte geleuchtet, als alles noch finster war. Als der Weg zur Taverne kein Weg, sondern ein Wunsch gewesen war. Thorian hatte sie getragen, ohne Ziel – so hatte er gesagt – und doch war sie ihm vorausgegangen. Wie ein stummer Ruf. Wie ein Versprechen.

„Sie brachte Thorian hierher. Sie steht für Neutralität & Offenheit – Trostspenderin in dunklen Stunden. Sie erinnert uns daran, dass Licht nicht fragt, wen es wärmt. Dass Offenheit nicht Gleichgültigkeit ist, sondern Bereitschaft. Und dass es Orte geben muss, die nicht werten, sondern bergen. Für einen Moment. Für eine Nacht. Vielleicht für länger.
Diese Laterne ist mehr als ein Lichtspender – sie ist ein Zeichen. Ein Ruf an jene, die im Schatten stehen und doch wissen, dass irgendwo ein Platz für sie bereitsteht. Sie brennt nicht hell, sondern warm. Nicht grell, sondern einladend. Sie zeigt nicht den Weg – sie sagt nur: Hier bist du richtig, wenn du ihn suchst. Es war kein Zufall, dass die Laterne von Thorian hergebracht wurde. Es war eine Einladung – und die Taverne hat sie angenommen.“


Ich blickte auf die sieben Gegenstände, die nun nebeneinander lagen – nicht einfach abgelegt, sondern fast ehrfürchtig positioniert. Jeder trug Erinnerungen. Jeder erzählte eine Geschichte. Jeder war ein Stück dieses Hauses. Und doch war da noch etwas – ein unausgesprochenes Verlangen nach Vollständigkeit.

Es war, als ob der Tisch selbst gespannt wartete. Als ob das Holz das Gewicht der Bedeutung kannte und sich darunter reckte, nicht aus Last, sondern aus Stolz. Die Gegenstände wirkten nicht zufällig zusammengetragen, sondern wie Fragmente eines größeren Musters – Teile eines alten Mosaiks, das erst jetzt wieder langsam sichtbar wurde. Die Luft war dicht, nicht schwer, sondern aufgeladen – wie vor einem Gewitter, das keine Zerstörung bringt, sondern Klarheit.

Ein Teil von mir erwartete beinahe, dass sich etwas regte. Dass eines der Dinge zu leuchten begann, sich bewegte, ein Zeichen gab. Aber alles blieb still – und gerade diese Stille war es, die sprach. Sie sagte: Es fehlt noch etwas. Nicht weil das Dargelegte nicht genug wäre, sondern weil es Raum gibt. Raum für etwas, das nicht aus Worten besteht, sondern aus Geste. Aus Gemeinschaft. Aus dem Moment, in dem Vollständigkeit nicht erreicht, sondern erkannt wird.

„Ich hatte immer vermutet, es würden acht Symbole sein – eines für jeden Arm des Kraken. Acht Säulen für die Taverne. Nicht aus Willkür, sondern aus Gefühl – als ob der Ort selbst nach dieser Zahl verlangte. Als ob mit jeder neuen Geste, jedem stillen Beitrag, einer dieser Arme gewachsen wäre. Und doch wäre es falsch weiter zu warten. Diese sieben ...“

Ich stockte. Etwas vibrierte in der Stille, etwas Unausgesprochenes. Meine Worte versickerten, nicht weil sie fehlten – sondern weil etwas anderes sich meldete. Der Blick der anderen war nicht mehr auf mich gerichtet, sondern auf etwas am Rand des Tisches. Ein leises Schaben, ein kurzes Klimpern von Metall auf Holz.

„Acht!“, rief Nicoletta plötzlich – ein Ton zwischen Staunen und Erleichterung – und zeigte auf den Tisch. Dort, zwischen all den Gegenständen, stand ein weiterer: ein gefüllter Krug, den Ulaf gerade noch umklammert hielt. Es war kein kunstvolles Trinkgefäß, kein silbernes Prunkstück, sondern ein schlichter, bauchiger Krug aus Holz mit feinen Metallrahmen. Aus seiner Öffnung stieg feinster Nebel auf. Der Schaum auf dem Ale schimmerte fast golden.

Der Krug war da. Nicht gebracht. Nicht gewählt. Sondern selbstverständlich. Als letzter Stein, der sich nicht einfügte – sondern schon immer dazugehört hatte. Und dass Ulaf ihn festhielt, hatte nichts mit Durst zu tun. Es war sein Beitrag. Seine Geste. Sein Schweigen, das deutlicher sprach als viele Worte je könnten.

„Jeder ist willkommen. Setzt euch! Trinkt!“, sagte Lirael sanft. „Die letzte Säule ist da.“

Ich musste lachen. So fügte sich alles. Die Erkenntnis war einfach, fast selbstverständlich – als hätte sie die ganze Zeit über auf uns gewartet.

Neutralität & Offenheit, die Werte der Gastwirtschaft – sie sollen unsere achte Säule sein. Es ist an der Zeit, dass wir diesem Ort Bedeutung geben. Nicht nur als Gebäude, sondern als Idee. Als Bündnis. Als Zuflucht für Gedanken, die anders sind, für Lebewesen, die noch suchen, und für jene, die bereits gefunden haben, was sie nie benennen konnten.

Ein Ort, der nicht fragt, woher du kommst – sondern wohin du willst. Der nicht verlangt, dass du dich veränderst, um dazuzugehören, sondern dich willkommen heißt, damit du du selbst bleiben kannst. Dieses Bündnis ist nicht in Stein gehauen – es wird gelebt. Heute. Von uns.“



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Ich zog einen Kreis mit Kreide auf den Tisch – schlicht, klar, mit acht Linien nach außen. Kein Zauber, kein Glanz. Nur Kreide. Und doch war es ein Moment, der sich in die Luft brannte. Die Stille war nicht drückend, sondern feierlich. Sogar das Knistern des Feuers schien innezuhalten.

„Die Taverne“, sagte ich, und setzte meine Unterschrift auf das Pergament. Die Tinte floss ruhig, als hätte sie darauf gewartet. Nicht nur auf dem Papier, sondern in der Luft, im Raum, in den Gesichtern um mich. Es war ein leiser Moment, und dennoch fühlte er sich an wie ein Gewitter ohne Donner: befreiend, klärend, unausweichlich.

Ich ließ die Feder ruhen und sah den Kreis vor mir – fünf Leben, acht Zeichen, die nun miteinander verwoben waren. Kein Schwur hatte uns verbunden, kein Eid gezwungen – nur der gemeinsame Wille, dass aus einem Ort ein Zuhause, aus Zufall Absicht und aus einer Idee Wirklichkeit werden durfte.

Die anderen erhoben sich. Einer nach dem anderen. Nicoletta schrieb ihren Namen in feiner Handschrift – geschwungene Buchstaben, sorgsam gesetzt, als wolle sie nicht nur bezeugen, sondern umarmen. Nathanael fügte ein altes Zeichen hinzu – eines aus unseren Studien, das für Geduld und Prüfung stand. Er zeichnete es nicht schnell, sondern mit der Bedächtigkeit eines Rituals, als sei es ein Siegel über das, was wachsen durfte.

Ulaf stempelte mit grobem Griff ein winziges Relief eines Steins daneben. Es war rau, unregelmäßig, wie das Gestein selbst, das er so oft berührte. Der Abdruck wirkte zunächst schlicht, aber in seinem Innersten strahlte er Beharrlichkeit und Gewicht aus. Nicht das Zeichen eines Handwerkers – das eines Bewahrers.

Lirael zögerte. Ihre Hand ruhte einen Moment auf dem Pergament, als wolle sie sich vergewissern, dass der Ort sie auch wirklich meinte. Dann legte sie ein Blatt auf das Papier, presste es leicht an und nahm es wieder. Der feine Abdruck, kaum sichtbar, blieb wie ein Schatten zurück – wie der Hauch eines Waldes, der nie ganz weicht.

Ein Bund war geschlossen – nicht mit Schwüren, sondern mit Zeichen. Nicht mit Lärm, sondern mit Bedeutung. Und als ich in die Runde blickte, wusste ich: Wir hatten etwas geschaffen, das bleiben konnte.

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Notizbuch der Wirtin: „Heute haben wir ein Bündnis geschlossen. Vielleicht ist das die tiefste Form von Magie. Denn es war kein einzelner Schwur, keine große Geste, die uns verband – sondern die stille Bereitschaft, Verantwortung zu teilen. Wir haben uns entschieden, gemeinsam zu stehen, ohne uns zu gleichen. Und vielleicht, nur vielleicht, liegt in diesem bewussten Miteinander ein Zauber, der stärker ist als jeder Spruch. Einer, der bleibt. Einer, der trägt – und weitergegeben werden kann.

Und nun, da die Kreide verblasst, die Tinte trocknet und der Rauch sich legt, bleibt etwas zurück, das kein Feuer nehmen kann: ein Wille, der nicht laut sein muss, um stark zu sein. Ein Wir.“
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