Episode XIII
„Depesche, Desaster & Durchblick – oder: Wie ein Fest fast zur Falle wurde“
Erzählt von Bareti, Wirtin mit Notizbuch, Nerven – und neuer Entschlossenheit.
Der Tag begann mit Tee. Das war in letzter Zeit selten genug, und ich hatte mir diesen einen Schluck als kleine Flucht vor dem Chaos der letzten Wochen gegönnt. Die Luft roch noch nach dem gestrigen Brot, das Ulaf gebacken hatte, und draußen spannte sich ein heller, klarer Morgenhimmel über die Baumwipfel. Ich hatte die Tasse kaum halb geleert, als Nicoletta die Tür zum Schankraum aufriss, als gelte es, ein Feuer zu löschen. Ihr Blick sprach von Dringlichkeit. Ihre Haltung von Stolz. Und ihre Hand hielt ein sorgsam versiegeltes Schreiben.
Sie atmete schwer, hatte offenbar einen langen Weg hinter sich. Ihre Haare klebten leicht an der Stirn, und ihre Stiefel waren staubig.
„Eine Depesche für die Taverne“, sagte sie.
„Ich habe sie in Moonglow abgefangen – direkt vor dem Zunftbüro. Der Bote hat mich beinahe umgerannt, blieb dann stehen und meinte: 'Ah, du gehörst doch zur Taverne, oder? Das erspart mir einen Weg.'“
Ich nahm das Pergament entgegen, noch ahnungslos, dass mein restlicher Tee in diesem Leben wohl kalt bleiben würde. Zunächst freute ich mich über die kunstvolle Gestaltung, das Siegel und den wohlklingenden Titel – und las laut die ersten Sätzen vor:
„… findet das Bankett der Zunftmeister in der Taverne 'Die Taverne' statt …“
Ich musste schmunzeln.
„Ein Zunftbankett, hier bei uns!“, sagte ich.
„Das ist... das ist tatsächlich eine Ehre.“
Nicoletta strahlte, Ulaf nickte anerkennend. Ich las weiter – und dann stutzte ich. Mein Finger glitt über das Datum. Noch einmal. Und noch einmal. Ich las es laut, damit jemand es bestätigen möge.
„… beginnt die Festlichkeit in drei Tagen zur zwanzigsten Abendstunde …“
Die Freude in allen Gesichtern fror ein.
Erneut las ich das Schreiben.
„… findet das Bankett der Zunftmeister in der Taverne 'Die Taverne' statt. Wie beschlossen und angekündigt, beginnt die Festlichkeit in drei Tagen zur zwanzigsten Abendstunde…“
Nicoletta wirkte nun weniger stolz. Ihre Hände verkrampften sich um das Tablett, das sie unbewusst noch immer hielt. Ihr Blick wanderte über meine Schulter hinweg ins Leere, als müsse sie die Zahl der verbleibenden Stunden selbst berechnen. Ulaf begann zu husten, ob des verschluckten Bieres oder der Nachricht wegen, blieb unklar. Es war kein lautes Husten – mehr ein krampfhaftes Räuspern, das sich hartnäckig hielt. Sein Blick sprach von Mitleid, vielleicht auch von einer tief sitzenden Sorge. Vielleicht war es nur Schreck – oder die Erinnerung an eine ähnliche Katastrophe in längst vergangenen Tagen. Er sagte nichts, aber ich erkannte das Zittern seiner Finger, als er den Henkel des Krugs neu umfasste.
„Drei Tage?“ fragte ich. Für einen Moment wusste ich nicht, ob ich lachen oder die Tür abschließen sollte. Drei Tage. Für ein Bankett, das nie angekündigt worden war. Mein Blick huschte zum Fenster, als könnte die Morgensonne eine Antwort liefern.
„Habt ihr etwas von einem Fest gehört? Von einem Zunftbankett, das hier stattfinden soll?“
Nicoletta schüttelte langsam den Kopf. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, als versuche sie, in sich selbst nach einer vergessenen Erinnerung zu graben. Ulaf sah zur Tür, als erwartete er, dass noch jemand mit einer zweiten Depesche hereinschneien würde – oder ein Bote mit der Nachricht, dass alles nur ein Scherz sei. Doch die Tür blieb still, nur der Wind spielte mit dem Griff.
Ich seufzte tief. Dann nahm ich das Schreiben, das sich plötzlich schwerer anfühlte, erneut in die Hand, entrollte es mit mehr Nachdruck, als nötig war, und hob es den beiden entgegen.
„Das hier... das ist keine freundliche Anfrage. Das ist eine letzte Warnung.“
Für einen Moment war alles still. Nur das junge Feuer im Kamin war zu hören, jedes leise Knacken ein Schritt in eine Richtung, auf die wir nicht vorbereitet waren.
Nicoletta und Ulaf sahen sich an, dann mich. Für einen Moment hielten wir den Atem an – wie Figuren auf einem schlecht gemalten Gemälde, das gleich zerfließt. Dann platzte alles auf einmal aus uns heraus. Wer wann was gehört hatte, ob der Bote das Schreiben absichtlich verspätet hatte, ob es vielleicht ein zweites, verlorenes Schreiben gab, das nie angekommen war. Ulaf schwor, er hätte vor zwei Wochen etwas von einem Festtermin gehört, dabei sei es aber nicht um unsere Taverne gegangen. Nicoletta erinnerte sich dunkel an eine Nachfrage des Bäckermeisters, die sie nicht ernst genommen hatte. Ich selbst hörte mich fragen, was genau überhaupt getan werden müsse für ein solches Bankett. Vielleicht wollte ich damit Zeit gewinnen, vielleicht suchte ich nach einem Strohhalm aus Klarheit.
Am Ende sprachen alle durcheinander. Stimmen überschnitten sich, Gesten wurden größer, und irgendjemand stieß beinahe die Teekanne um. Aber mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fast rührte, griff Nicoletta nach Papier, Ulaf nach dem Vorratsbuch – und ich nach meinem Notizbuch. Die Schufterei begann umgehend.
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Es folgten drei der längsten Tage meines bisherigen Lebens.
Noch am selben Morgen hatte ich mit krakeliger Schrift eine Liste ins Notizbuch geschrieben, die wenig später von einer zweiten überkritzelt wurde. Dann von einer dritten. Und schließlich von einem losen Blatt ersetzt wurde, das ich an die Küchenwand nagelte. Ulaf zählte Vorräte mit der Präzision eines Alchemisten, fluchte jedoch laut, als er bemerkte, dass mehrere Säcke leer oder durchweicht waren.
Thorian bot an, den Saal neu zu bestuhlen.
„Ich hab da noch was Feines mit Polstern in Moosgrün“, hatte er gesagt. Später, als ich erschöpft auf der Küchenbank saß, trat er kurz zu mir, hielt inne und meinte leise:
„Nicht alles muss perfekt sein. Nur ehrlich.“ Ich hatte genickt – und die Liste trotzdem weitergeschrieben. Seinen Gehilfen fielen zwei der Stühle in einen Wassergraben, obwohl sie versicherten, die Ladung gut gesichert zu habe. Trotzdem waren die Sitzpolster hinterher nicht mehr zu gebrauchen.
Nicoletta war abwechselnd am Brunnen, bei den Lieferanten und auf dem Dach, weil irgendwo Ziegel klapperten – oder, wie sich herausstellte, ein Rabennest gebaut worden war. Zwischendurch schnappte sie sich einen zerknüllten Einkaufszettel von mir und murmelte:
„Wenn ihr kocht, schreibe ich die Listen. Eure Handschrift macht mir Kopfschmerzen.“
Was folgte, war eine Lektion im Durchhalten, falls es die Götter so wollten. Noch bevor ich das Gefühl hatte, auch nur einen der vielen Aufgabenpunkte abgearbeitet zu haben, begannen die Rückschläge. Der Most, den wir frühzeitig bestellt hatten, war bereits bei der Anlieferung verdorben – säuerlich im Geruch, trüb in der Farbe und mit einer pelzigen Note auf der Zunge, wie Nicoletta bemerkte. Statt der festlichen Fasslieferung für das Bier wurde uns ein beschädigtes Holzfass übergeben, das bei der kleinsten Bewegung zu lecken begann. Der Händler wies natürlich jede Verantwortung von sich, das Fass hätte sein Lager unbeschädigt verlassen.
Als wir das Mehl überprüften, entdeckte Nicoletta eine wimmelnde Masse weißlicher Würmer darin. Sie hob den Sack mit spitzen Fingern hoch, rümpfte die Nase und versuchte noch zu scherzen, es handle sich um
„zusätzliche Proteine“ – aber niemand lachte. Die Biester krochen so emsig durch das Mehl, als hätten sie den Liefertermin besser eingehalten als mancher Händler. Ich überlegte kurz, ob das Pulver noch zu Vogelfutter getaugt hätte, verwarf den Gedanken aber schnell.
Die gelieferten Kräuter waren von der Sonne gegart worden und rochen entsprechend modrig – ein Geruch zwischen altem Heu und feuchtem Leinen. Die Päckchen waren nicht nur warm, sondern regelrecht durchgeschwitzt, und der Rosmarin ließ sich in einem Stück biegen, als sei er aus Leder.
Und im Lager, wo wir Ersatz zu finden hofften, fanden wir stattdessen Ratten – dicke, fette Tiere mit wenig Scheu, die sich auf Vorräte stürzten und uns frech aus dunklen Ecken musterten. Einer von ihnen trug einen angebissenen Apfel im Maul und sah mich direkt an. Eine zweite kletterte elegant über einen Sack getrockneter Bohnen und schien sich dort ein Nest zu bauen. Wir zählten vier, vielleicht fünf – doch sie bewegten sich schnell, verschwanden zwischen Kisten und alten Decken, als hätten sie den Plan für das Lager selbst entworfen. Ulaf versuchte, mit einem Besen hinter ihnen herzugehen, schlug dabei aber nur eine Holzkiste entzwei. Danach wurde geflucht. Ulaf sagte irgendetwas von einem Buch. Am Ende musste ich zur Magie greifen um den ungebetenen Gästen Hausverbot zu erteilen, allem anderen schienen sie gewachsen zu sein.
Der Kamin im Schankraum, welcher als Saal dienen sollte, der erst vor wenigen Wochen gründlich gereinigt worden war, verweigerte plötzlich jeden Dienst. Der Rauch quoll nicht etwa zögerlich, sondern stur und mit Nachdruck in den Raum, als wolle das Haus selbst ein Zeichen setzen. Ein sehr großes, dicht geflochtenes Vogelnest hatte sich im oberen Bereich verkeilt – möglicherweise eingeblasen durch einen nächtlichen Sturm oder vom Dach gefallen. Es dauerte fast zwei Stunden, bis wir es entdeckten und mit vereinten Kräften herausziehen konnten. Nicoletta hatte einen halben Eimer Ruß im Haar, und Ulaf war der festen Überzeugung, dass ein besonders aggressiver Spatz ihn gezielt angeflogen hatte.
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Und als wäre das nicht genug, stellte sich zu guter Letzt heraus, dass jemand – bis heute weiß niemand wer – sämtliche Tintenfläschchen mit Blaubeersaft aufgefüllt hatte. Ob absichtlich oder aus schlichter Verwechslung war unklar, aber das Ergebnis war dasselbe: Die Listen auf dem Küchentisch waren klebrig, unleserlich, und zogen eine beachtliche Anzahl an Wespen an. Zwei davon hatten es sich auf meinem Notizbuch bequem gemacht und mussten von Lirael beruhigt werden, ehe sie uns in Ruhe ließen.
Ich versuchte, etwas Ordnung im Chaos zu erhalten. Ich versuchte es wirklich. Wenn das Bier ausfiel, musste umgehend Ersatz organisiert werden. Ulaf kannte die besten Quellen jenseits von Moonglow – alte Kontakte, die nur wenigen bekannt waren. Aber wir zählten nicht mehr in Stunden, sondern in verstrichenen Lieferfristen und aufgebrauchten Nerven. Doch jede Stunde brachte neue Fragen, neue Probleme, neue Lösungen, die sogleich neue Probleme gebaren. Früher hätte ich für eine Einladung drei Wochen im Voraus ein solches Fest begleiten dürfen – als Gast, oder vielleicht als Auftraggeberin, nie als Gastgeberin. Ich hätte einen Sitzplan bewundert, nicht gezeichnet, hätte einen Serviettenfalter beauftragt, nicht kritisiert. Heute reichte es kaum für saubere Gläser.
Am Abend des zweiten Tages stand ich in der Küche und versuchte, einer Liste Herr zu werden, die sich selbst vermehrte. Ich hatte vier Punkte durchgestrichen und sechs neue notiert. Zwei davon hatte ich gestrichen – nur um sie eine Stunde später mit anderer Tinte wieder hinzuzufügen. Meine Tinte war zur Neige gegangen. Nicoletta schlief mit dem Kopf auf dem Arm am Tisch ein. Ulaf schnarchte im Lager zwischen zwei leeren Säcken. Am Nachmittag hatte ich ihn kurz im Lager erwischt, wie er über das kaputte Fass strich, das wir nicht mehr retten konnten.
„Ein gutes Bier war das“, murmelte er.
„Schade drum.“
Ich holte tief Luft, ließ den Blick durch den Schankraum schweifen und notierte einen letzten Satz ins Notizbuch:
„Chaos lässt sich nicht planen. Am besten serviert man es einfach mit einem Lächeln.“
Ich ließ die Feder sinken, legte sie quer über die Seite. Die Tinte hatte gerade noch gereicht. Mein Blick fiel auf die feinen Spuren, die sie hinterlassen hatte – leichte Schlieren, an einer Stelle ein kleiner Tropfen. Ich hatte die Worte nicht geplant, aber sie fühlten sich richtig an. Nicht wie ein Schlussstrich – eher wie ein Seufzer.
Dann blies ich die Kerzen aus. Für einen Moment blieb ich im Dunkel stehen, den Rücken gegen den Tresen gelehnt. Meine Augen gewöhnten sich an das schwache Glimmen des Kamins, das in Wellen über den Boden kroch. Ich hörte das Knacken der Balken über mir, das leise Scharren einer Maus hinter dem Fasslager, und draußen den Nachtwind, der ein loses Stück Tuch durch die Dachrinne wehte.
Mein Blick fiel wieder auf das Notizbuch, das noch geöffnet auf dem Tisch lag. Die Seiten flatterten leicht im Luftzug – als wollte das Notizbuch selbst warnen. Es sah aus wie eine Kreatur mit dünnen Flügeln, bereit zum Aufbruch. Irgendetwas wartete noch auf uns. Ich wusste nur nicht, ob es das Fest war – oder etwas im Schatten dahinter. Und ich ahnte, dass es bereits unterwegs war.
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Der Abend des Festes kam schneller, als uns lieb war. Nur dank unserer gemeinsamen Bemühungen gelang es uns überhaupt, etwas auf die Beine zu stellen. Am Abend zuvor hatten wir noch Gläser gezählt, Etiketten beschriftet, Laternen poliert und Brotleibe nachgezählt, als hinge das Gelingen des gesamten Festes an einem einzigen Laib Roggen. Nicoletta hatte bis spät in die Nacht Tischdecken gestärkt, Lirael den Weinvorrat mit einem Aromazauber versiegelt und Ulaf ein letztes Mal den Fassverschluss kontrolliert, als wolle er ihm eine Seele einhauchen. Ich selbst hatte mich mehrfach an die Sitzordnung gesetzt und sie jedes Mal wieder verworfen – am Ende entschied ich mich dafür, den Lauf der Dinge selbst gestalten zu lassen. Es war einer jener Abende, an denen selbst das Licht der Laternen ein wenig zitterte – vor Müdigkeit, oder Erwartung.
Ich hatte mich für diesen Abend extra besonders herausgeputzt. Das Haar gebändigt, die Schürze gegen ein sauber geknöpftes Gewand getauscht, die Stimme für die Begrüßung geölt. Meine Zeit in höheren Kreisen war zwar bereits länger her, aber manche alte Handschuhe konnte man doch problemlos wieder anziehen. Und eben solche feinen Handschuhe trug ich an diesem Abend.
Die Taverne strahlte. Kerzen flackerten in kupfernen Haltern, Girlanden aus getrocknetem Hopfen und Farn schmückten die Balken. Es duftete nach Braten, nach Brot, nach Most. Und für einen flüchtigen Moment glaubte ich, alles könnte gutgehen.
Auch meine Gefährten waren herausgeputzt, auch wenn dies bei Ulaf etwas mehr Überzeugungsarbeit gekostet hatte. Sein Bart war frisch gestutzt, die Edelsteine sauber eingeflochten. Nicoletta trug ein besonders schönes rotes Hemd mit hellem Wams, die Haare geflochten, man konnte förmlich Liraels Handschrift darin erkennen.
Die Zunftmeister waren zahlreich erschienen, dazu Vertreter kleinerer Handelsbünde, einige Magier aus Moonglow und sogar ein Wachszieher aus Ocllo, der sein eigenes Siegelwachs als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Die Taverne drohte aus allen Nähten zu platzen, aber zum Glück war uns das Wetter zugetan und wir hatten vorsorglich einen Nebenraum und den Außenbereich hergerichtet.
Die Gäste trugen seidene Westen, funkelnde Broschen, kunstvolle Bärte, und einige sahen sich bei der Ankunft anerkennend um. Sie kommentierten das Licht, das von den polierten Laternen auf die Tischdecken fiel, den Geruch nach frischem Brot, den ausstaffierten Vorraum mit Blumenarrangement. Einer klopfte lobend auf die Holzvertäfelung und fragte nach dem Schreiner. Ich erwiderte höflich, dass er heute auch anwesend sei. Nicoletta bewegte sich geschickt durch das Gewimmel, das Tablett voller Krüge, das Lächeln exakt dosiert. Ihre Bewegungen wirkten fast choreographiert, als gehörten sie zur Vorstellung.
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Ich stand gerade am Tresen, wischte mir die Hände an einem Tuch, das ich später nie wieder benutzen würde, als ich sah, wie sie kurz ins Straucheln geriet. Ein Gast mit auffallend spitzen Schuhen war rückwärts getreten und hatte sie angerempelt. Nichts Ungewöhnliches – das Gedränge war beträchtlich. Nicoletta fing sich, entschuldigte sich, obwohl sie keine Schuld traf und begann die Krüge mit feinem Ale - noch am Morgen von einem neuen Lieferanten geliefert! - auf den Tisch abzustellen und zu servieren.
Dann aber blieb Nicolettas Blick an einem der Krüge hängen, länger als notwendig. Sie stellte den Krug auf das Tablett zurück, sah sich suchend um und kam mit schnellerem Schritt zu mir zurück.
„Das da schäumt seltsam,“ sagte sie leise, kaum hörbar neben dem Lärm.
„Und ich hab ordentlich gezapft. Genau so, wie Ulaf es gezeigt hat.“ Unsere Schankmagd hatte mich längst in der Kunst des zapfens hinter sich gelassen und war fast in der Lage Ulaf selbst Konkurrenz zu machen. Es gab für mich nicht den leisesten Zweifel, wenn sie es sagte.
Ich nahm den Krug vom Tablett und stellte ihn hinter den Tresen. Die Schaumkrone war dichter, feiner als sie sein sollte, und es stieg eine sehr dezente, fast metallische Note in meine Nase. Nur meine Erfahrung mit der Alchemie erlaubte es mir, die Note vom Biergeruch zu trennen. Ich sah Nicoletta an.
„Du hast inzwischen einen guten Blick für sowas und du hast recht, da stimmt was nicht.“
Sie nickte, ihr Blick war wachsam, wach.
„Ulaf?“ rief sie dann über die Schultern.
„Kannst du mal?“
Der Zwerg kam aus dem Nebenraum, die Bartzöpfe leicht gewellt vom Bratendampf. Er sah den Krug, seine Miene wurde augenblicklich ernst.
„Was’n los?“
„Zapffehler oder... mehr?“ fragte Nicoletta.
Ulaf nahm den Krug entgegen, roch daran, hielt ihn gegen das Licht. Dann tunkte er einen Finger hinein, tippte ihn sich gegen die Zunge – und spuckte sofort auf den Boden. Nicht mit dramatischer Geste, sondern mit reflexartiger Deutlichkeit.
„Kein Zweifel. Das ist vergiftet.“
Ich erstarrte. Nicoletta sah ihn entsetzt an.
„Alchogift,“ murmelte er, nun fast tonlos.
„Verdünnt, für den Geschmack, aber sauber dosiert. Jemand meint es ernst. Das ist kein Zufall, das ist zielgerichtet. Eine Substanz dieser Art ist nicht leicht herzustellen, geschweige denn unbemerkt hier einzuschleusen. Das war vorbereitet. Und nicht von einem Laien.“
Mein Magen zog sich zusammen. Das Fest, das wir mit letzter Kraft auf die Beine gestellt hatten, war in Gefahr. Ich dachte an die langen Tage der Vorbereitung, die Müdigkeit in unseren Knochen – und nun dies. Mitten unter uns.
Ich zwang mich zur Ruhe, zwang meine Stimme zur Klarheit.
„Bitte zapf ein neues Bier und bring es dem wartenden Gast, wir wollen keinen Verdacht erwecken.“
Nicoletta nickte, aber ich sah das Flackern in ihrem Blick. Sie ging mit raschem Schritt.
„Lirael?“ fragte ich Ulaf schließlich.
„Im Innenhof, unter der Linde.“
„Ich hol sie selbst, sag niemandem etwas. Noch nicht.“
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Minuten später standen wir im Vorratsraum. Die Musik des Festes drang gedämpft durch die Wände, vermischt mit Gelächter, Gläserklirren und dem entfernten Klang eines Lautenspielers. Nicoletta hielt Wache an der Tür, den Blick angespannt, doch die Haltung aufrecht. Sie hatte sich eine Locke aus dem Gesicht gestrichen und stand nun so ruhig da, als könne sie jeden Moment zustoßen – oder fliehen. Lirael beugte sich über den Krug, murmelte Formeln, und ein grüner Schimmer legte sich über die Flüssigkeit. Ihre Stirn war in Falten gelegt, die Finger bewegten sich wie bei einem leisen Tanz. Ein feiner Geruch von Eisen und Lavendel lag plötzlich in der Luft.
„Das ist keine gängige Substanz“, sagte sie schließlich.
„Alchemisch kodiert. Jemand sollte gezielt ausgeschaltet werden. Es hätte wie ein Anfall gewirkt, aber wäre rasch tödlich verlaufen.“
„Ein Zunftmeister?“, fragte Ulaf.
Lirael schüttelte langsam den Kopf.
„Unklar aber wahrscheinlich. Das Muster ist auf menschliche Grundkonstitution abgestimmt, mittleres Gewicht, kaum magische Resistenz. Ein durchschnittlicher Mensch mittleren Alters.“
„Und der Becher war gezielt markiert.“ warf ich ein
„Eine dünne Schicht arkaner Signatur auf dem Henkel – jemand wusste genau, wem dieser Krug gereicht werden würde.“
„Wie viele wurden schon ausgeschenkt?“, fragte ich, bemüht ruhig zu klingen, obwohl mir das Herz bis in die Kehle schlug.
„Nur dieser eine war auffällig“, sagte Nicoletta.
„Ich habe ihn direkt zurückgenommen. Aber wenn er untergemischt wurde, könnten andere betroffen sein.“ Sie schwieg kurz, dann fügte sie hinzu:
„Ich habe ihn erkannt. Den Mann, der mich angerempelt hat. Ich glaube... das war kein Zufall.“
Ich atmete tief durch. Die Wände des Vorratsraums kamen mir plötzlich enger vor.
„Wir müssen ihn finden. Denjenigen, der das platziert hat. Und zwar unauffällig. Keine Panik. Nicht vor den Gästen.“
Lirael schloss die Augen, als sammle sie etwas, das in ihr schwebte.
„Ich kann der Spur folgen – aber es braucht Konzentration. Und Zeit.“ Sie blickte auf uns betrachtete uns andere.
„Jemand muss die Gäste ablenken und die Aufmerksamkeit auf sich lenken“
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Ich kehrte in den Saal zurück und hob die Stimme.
„Meine Damen und Herren, im Namen der Taverne möchte ich einen kurzen Dank aussprechen, ehe die Nachspeisen serviert werden …“
Ich sprach langsam, bedächtig. Worte als Nebelwand. Ich redete über die Freundschaft zwischen den Städten, über die Bedeutung des Handels in schwierigen Zeiten, über Brücken, die man nicht nur über Flüsse baue. Währenddessen tasteten meine Augen durch den Raum. Gesichter, Haltungen, Blicke.
Und dann öffnete sich die Tür. In der Bewegung elegant wie eh und je trat Melion, selbst ernannter Geschichtenweber in den Schankraum. Das Haar leuchtete fast wie Kupfer im Licht der Kerzen, das Gewand wie ein Narr aus einem alten Märchen. Er traf genau zum rechten Zeitpunkt ein, als hätte das Schicksal seine Schritte gelenkt.
Unsere Blicke trafen sich. Für einen Moment stand alles still. Es war, als hätte Melion die Szene betreten wie eine Figur aus einem besonders geschickten Theaterstück, direkt auf seinen Einsatz wartend. Ich hob leicht die Hand, nur einen Finger, eine Geste, die ihm zu verstehen gab: Bereite dich bitte vor. Er erwiderte den Blick mit einem kaum sichtbaren Nicken, fuhr sich mit einer langsamen, übertrieben eleganten Bewegung durch das Haar und begann sich sogleich vorzubereiten – seinen Umhang zu richten und eine feine Laute hervorzuholen, schlank und filigran wie aus Elfenhand geschnitzt.
Ich ließ mir nichts anmerken, fuhr mit meiner Rede fort, während in meinem Hinterkopf Melions Anwesenheit wie eine zweite Flamme brannte. Ich redete weiter, hob die Stimme an den passenden Stellen, ließ die Zuhörer durch Pausen atmen, führte sie von einem Thema zum nächsten wie durch einen Garten bei Nacht – in der Hoffnung, dass der Duft sie ablenkte von dem, was im Dunkeln lauerte.
Hinter mir hörte ich, wie Melion sich bereit machte. Seine Stiefel setzten kaum hörbar auf, der Saum seines Umhanges raschelte wie trockenes Laub, als er in Stellung ging. Die ersten Kinder hatten ihn entdeckt – ihre Augen leuchteten. Ein älterer Mann drehte sich um, als spüre er die veränderte Aura. Und ich wusste: Jetzt war der Moment gekommen.
Dann wechselte ich Ton und Haltung.
„Doch meine lieben Gäste … heute Abend ist mehr als nur Handel und Braten im Spiel. Heute ehren wir auch die Kunst. Und wie ließe sich dieser Abend besser krönen, als mit einem ganz besonderen Überraschungsgast?“
Ich trat beiseite, deutete zur Seite.
„Ich präsentiere Ihnen: den unvergleichlichen Geschichtenweber Melion.“
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Ein Raunen ging durch den Raum. Melion trat ins Licht, verneigte sich tief – und begann. Worte, Musik, Bewegung: ein Zauber zwischen Dichtung und Illusion. Während die Gäste gebannt zusahen, wirkte es, als hielte die Welt für einen Moment den Atem an. Und genau das brauchten wir – Zeit. Ruhe. Aufmerksamkeit – gelenkt in andere Bahnen.
Lirael schob sich zwischen den Gästen hindurch, scheinbar achtlos doch fast unbemerkt. Ihre Fingerspitzen streiften Krüge, Glasränder, Ärmel. Nicoletta reichte weiter Getränke, blieb aber stets mit einem Auge bei jenem Gast, der sie angerempelt hatte. Ulaf stand beim Fass, füllte neue Krüge, zählte leise mit – und ließ seinen Blick über die Versammelten gleiten.
Dann kam das Nicken von Lirael. Subtil. Zielgerichtet. Sie deutete mit einem kaum merklichen Zucken ihres Handgelenks auf einen hageren Mann mit schmalem Gesicht und einem dunklen Ring. Ich erkannte es sofort: Der Ring war der Ursprung der arkanen Signatur. Die feine Spur, die ich zuvor auf dem Krug gespürt hatte, war hier noch klarer, als hätte sie sich in den Edelstein eingebrannt. Seine Augen wanderten unruhig über die Menge, nicht wie bei einem Gast, der sich orientiert, sondern wie bei jemandem, der Fluchtwege taxiert.
Er spürte wohl, dass man ihn beobachtete – seine Schultern spannten sich, sein Schritt wurde schneller. Für einen Moment blieb er stehen, warf einen prüfenden Blick zur Tür, als erwäge er zu fliehen. Dann schien er sich zu fangen, legte ein routiniertes Lächeln auf, griff nach einem herumstehenden Becher, um Normalität zu heucheln – und stellte ihn sofort wieder ab. Die Maske hielt kaum länger als ein Atemzug.
Nicoletta blieb in meiner Nähe stehen, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.
„Das war der, der mich angerempelt hat.“ Ihre Finger zitterten leicht, doch sie hob das Kinn, als wolle sie dem Moment trotzen. Ich legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter, ehe sich der Mann in Bewegung setzte. Unauffällig, aber zielgerichtet, glitt er zwischen den Gästen hindurch. Sein Weg führte nicht etwa zum Tresen oder zu einem der Nebentische – er nahm Kurs auf die Küche.
Ich nickte Ulaf zu. Der Zwerg verstand sofort, stellte den Krug beiseite und verließ leise seine Position beim Fass. Binnen weniger Herzschläge war er in den Schatten verschwunden, nur sein Umriss huschte durch den Lichtsaum der Tür.
Der Mann schob sich durch die Flügeltür zur Küche. Ich trat zwei Schritte nach vorne, bereit, einzugreifen, falls nötig – doch da ertönte plötzlich ein Ruf. Kein Aufschrei, sondern eher ein Befehlston. Danach ein Klirren von Metall, als sei etwas Schweres gefallen. Schritte, hastig und kurz. Dann ein dumpfer Schlag.
Und Stille, unheilvoll und vollkommen.
Für einen Moment hielten die Schatten den Atem an. Dann setzte draußen wieder Musik ein, als wäre nichts geschehen. Nur ich wusste: Etwas war gerade zu Ende gegangen – und vielleicht auch etwas begonnen.
Ich erreichte die Küche, als Ulaf den benommenen Mann gegen den Schrank presste. Der Mann versuchte sich loszureißen, trat um sich, fauchte etwas Unverständliches – doch Lirael war schneller. Sie warf einen Bindeschatten über ihn, während ich mein Bannzeichen wirkte. Noch in der Bewegung sackte er zusammen, schlaff wie ein nasser Umhang. Der Ring – ein magischer Fokus – wurde ihm abgenommen. In seinem Ärmel fand Ulaf einen Hohlgriffel aus Kupfer, gefüllt mit der gleichen Substanz wie im Krug.
„Er hatte noch mehr von dem Zeug dabei,“ sagte Ulaf und hielt mir ein kleines, mit einem Wachszeichen versiegeltes Fläschchen entgegen.
„Und ein Pergament mit Namen. Der Zunftmeister von Skara Brae stand ganz oben – fein säuberlich unterstrichen.“
Ich spürte, wie sich meine Schultern anspannten. Noch ein Feind im Schatten, noch eine Spur, die zu folgen lohnte – aber nicht in diesem Moment.
Ich nickte langsam.
„Zunächst feiern wir weiter. Und später frage ich, wer ihn geschickt hat. Aber nicht mehr heute. Heute gehört den Gästen, dem Licht, dem Klang und dem Vertrauen.“ Wir banden den Mann sauber, mit Seil und einem kleinen Zauber, der die Glieder schwächte, ohne zu schaden. Lirael und Ulaf trugen ihn in den Lagerraum, wo wir ihn unauffällig einsperrten. Die Tür war alt, aber das Schloss vertrauenswürdig. Niemand sollte ihn dort vermuten – nicht heute Nacht.
Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, trat zurück und zog die Küchentür leise hinter mir zu. Das Gelächter der Gäste schwoll an wie eine Welle. Und zum ersten Mal an diesem Abend hatte ich das Gefühl, dass unser Licht weit genug strahlte, um den Schatten zu trotzen – wenn auch nur für diesen einen, kostbaren Augenblick. Ich sah hinüber zu Melion, der gerade mit einer halben Drehung in den Abschluss seiner Darbietung glitt. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Ich nickte kaum merklich. Und er verneigte sich noch ein Stück tiefer.
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Es war früher Morgen, als der letzte Gast ging. Der Duft von Braten in der Luft war längst verflogen, war müde geworden, wie alles in diesen Räumen. Die Kerzen brannten herunter, einige flackerten nur noch schwach, und auf dem Boden lagen verstreute Krümel, ein zerbrochener Löffel und eine einzelne, goldene Feder aus dem Hut irgendeines Gastes. Ich hatte eigentlich vorgehabt, bis zum Vormittag zu schlafen, zumindest ein paar Stunden, aber ich blieb sitzen. Am Kamin. Wach. Wartend.
Melion trat zu mir, leise, wie ein Gedanke, der schon länger im Raum war.
„Jetzt ist die Stunde. Wir sollten reden.“
Ich nickte. Worte waren nicht mehr nötig. Ich rief nach den anderen, und kurz darauf fanden wir uns im Lagerraum ein. Der Attentäter saß bereits, gefesselt, doch aufrecht. Die Haltung eines Profis, das Gesicht wie aus Stein. Aber seine Finger rieben sich unbewusst. Immer wieder.
„Also…“ sagte ich ruhig,
„Euer Ziel war ein Zunftmeister. Vielleicht auch mehrere. Warum?“
Er blickte mich an. Lange. Zu lange. Seine Lippen verzogen sich leicht, als wollte er lächeln, aber es blieb bei einer angedeuteten Grimasse.
„Ihr glaubt wohl, ich sage einfach, was ihr hören wollt? Dass ich einknicke wie ein Lehrling vor seinem Meister?“
„Wir glauben, dass ihr nicht wisst, worauf ihr euch eingelassen habt“, erwiderte Melion aus dem Schatten heraus, die Stimme ruhig, fast freundlich.
„Und dass euch längst klar ist, dass ihr alleine seid.“
„Und Ihr überschätzt, was Ihr gewinnen könnt. Ihr habt keine Vorstellung davon, mit wem Ihr euch anlegt.“ Seine Stimme war ruhig, kalt, fast zu kontrolliert.
„Ich bin nur ein Bote. Einer, der ein Messer trägt, wenn andere reden. Ich habe schon Schlimmeres überstanden als euch,“ knurrte der Mann.
„Ich bin kein Dummkopf. Ich weiß, wie man redet – und wann man schweigt.“
Doch während er sprach, sah ich, wie seine Hände unbewusst an der Kante des Stuhls rieben. Ein Finger zitterte leicht. Seine Worte wirkten wie auswendig gelernt – sein Blick jedoch war rastlos.
„Wer hat euch geschickt?“ fragte ich leise. Ich hob keine Stimme, drohte nicht. Ich stellte nur eine Frage – und ließ die Stille dahinter länger stehen, als es angenehm war.
Es war nicht viel nötig, ein fester Blick, die beiläufige Offenbarung, das mir Magie innewohnte und etwas Beharrlichkeit. Er hatte geglaubt, er könne uns mit Haltung beeindrucken. Dass wir ihn mit Drohungen überziehen würden. Stattdessen warteten wir. Und warteten.
Seine Haltung brach nicht sofort. Es war eher ein langsames Einsinken – wie ein Zelt, dessen Seile einer nach dem anderen reißen. Die Schultern sackten, die Augen verloren ihre Härte.
„Der Auftrag war einfach,“ sagte er schließlich, die Stimme nun leiser, rauer.
„Chaos stiften. Ruf zerstören. Die Taverne sollte untergehen. Wie damals.“
„Wie damals?“ Ich trat näher.
„Ihr kennt also die Geschichte … von dem, was einst an diesem Ort stand?“
„Nicht genau“, murmelte er.
„Nur, dass es schon einmal eine Taverne gab. Hier. Und dass sie gestürzt wurde. Dass jemand… jemand sicherstellen will, dass es nicht wieder geschieht. Oder dass niemand es je wieder versucht.“
Er lachte. Kurz. Trocken.
„Ich dachte… ich dachte, es ginge nur um Einschüchterung. Um… Druck. Dass ihr aufgebt. Dass die Gäste fliehen. Dass ihr den Mut verliert. Ich sollte eine Kette in Bewegung setzen. Der Rest würde von selbst geschehen.“
Er sah auf den Boden. Die Maske war gefallen. Kein Profi mehr. Nur noch ein Mann mit Angst in den Augen.
„Ihr werdet ausgeliefert“, sagte Ulaf ruhig.
„Nicht an die Zunft. An die Stadtwache. Und sie wird wissen wollen, wer euch bezahlte.“
Der Mann nickte, zu müde für Widerstand. Doch irgendetwas in seinem Blick verriet: Dies war nicht das Ende. Nicht für ihn. Und nicht für uns.
Wir verschlossen ihn wieder im Lager, sauber verborgen, wie einen Geist, der noch nicht losgelassen hatte. Ich versiegelte die Tür mit einem einfachen Bann, kaum sichtbar, aber wirkungsvoll. Einem Fremden würde sie wie eine gewöhnliche Lagertür erscheinen – doch jeder Versuch, sie zu öffnen, würde ein Flüstern wecken, das nur wir vernahmen. Der Attentäter schlief, oder tat zumindest so. Seine Fäuste lagen offen, der Kopf zur Seite gesunken. Doch ich sah, dass er wach war. Das Zittern seiner Finger hatte nicht nachgelassen.
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Dann begannen die anderen damit aufzuräumen. Nicoletta sammelte Gläser mit sicherem Griff, prüfte jedes auf Sprünge und sortierte sie auf einem Tablett, das sie erstaunlich ruhig balancierte. Lirael rollte Tischdecken zusammen, ordnete sie säuberlich, murmelte dabei leise Reime, die wie eine magische Inventur klangen. Ulaf schimpfte halblaut über zerbrochenes Geschirr, das sich nicht anständig stapeln ließ, und ließ sich schließlich auf einen Schemel nieder, um die Scherben in einen alten Zwirnbeutel zu sammeln. Melion hingegen trug die leeren Flaschen mit theatralischem Ernst in den Hof, wobei er jedes Klirren mit einem dramatischen Seufzer begleitete, als spiele er auf einer unsichtbaren Bühne.
„Die letzte Symphonie der Flaschenklänge“, murmelte er. Lirael schnaubte nur und schüttelte den Kopf.
Ich blieb sitzen. Der Kamin knisterte leise, als wolle er mir Gesellschaft leisten. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, legte mein Notizbuch auf den Tisch. Die Feder war stumpf. Es war ein alter Federkiel, aus dunklem Gänseflug, den ich seit Jahren benutzte. Ich nahm mir Zeit, löste die alte Spitze vorsichtig mit der Messerklinge, schabte die Reste sauber ab und schnitt mit ruhiger Hand eine neue. Das kleine Messer, dessen Griff ich einst in Minoc hatte verzieren lassen, lag vertraut in meiner Hand, wie ein Werkzeug der Erinnerung.
Dann schrieb ich:
Er dachte, er hätte die Taverne damals zerstört. Diesmal wird er zusehen müssen, wie sie wächst. Wie sie Wurzeln schlägt in Stein und Staub, wie sie sich erhebt aus dem, was er für Asche hielt. Und er wird nicht verstehen, dass genau das seine größte Niederlage ist. Denn er rechnete mit Furcht, mit Rückzug, mit Aufgeben. Doch was er säte, war Entschlossenheit.
Darunter:
Ich werde nicht mehr nur warten. Ich werde planen. Ich werde handeln. Ich werde standhalten – für jene, die an mich glauben. Und für jene, die es noch nicht tun.
Und in Gedanken setzte ich noch einen Satz darunter – einen, den ich noch nicht zu Papier bringen wollte:
Ich kenne meinen nächsten Schritt. Und ich werde ihn nicht allein tun. Ich weiß, wo ich beginnen muss. Und wer bereit sein wird, mit mir zu gehen.